Das erste Mal traf ich Angelina (Name und Hintergrund geändert) vor einigen Jahren in Singapur. Sie war Teilnehmerin an einem Team-Coaching mit einem Dienstleister aus dem Bereich der Gesundheitsvorsorge.
Angelina war zu diesem Zeitpunkt die leitende Krankenschwester auf einer Intensivstation und stand dort zusammen mit ihrem Team unter immensem Druck und täglichem Stress. Da die langen Dienstschichten allmählich ihren Tribut forderten, zielte das Coaching darauf ab, Möglichkeiten für das Team zu finden, nachhaltiger zu arbeiten und gleichzeitig die Art von Agilität und guten Ergebnissen beizubehalten, für die es bekannt war.
Im Verlauf des Coaching-Projekts lernte ich auch mehr die persönliche Seite einiger Teammitglieder kennen. Angelina war eindeutig das Herzstück der Einheit und unterstützte alle, insbesondere die jüngeren Krankenschwestern und Ärzte, auf ungewöhnlich fürsorgliche Weise. Sie konnte gleichzeitig auch harte Entscheidungen fällen, weshalb ich sie insgeheim als die „Tiger-Mama“ der Organisation markierte. Angelina erledigte unheimlich viele Aufgaben auf der Station selbst und sorgte gleichzeitig dafür, dass niemand unterwegs verlorenging. Nach einem der Workshops saß ich noch ein bisschen mit Angelina zusammen, und plötzlich gab sie mir einen ungewohnt offenen Einblick in ihr Herz und erzählte mir ihre Geschichte, die mich stark berührte.
Als Angelina sieben Jahre alt war, hatte sie beim Durchsuchen von persönlichen Dokumenten für ein Schulprojekt eine überraschende Entdeckung gemacht. Beim Begutachten ihrer Geburtsurkunde musste sie feststellen, dass ihre vermeintlichen biologischen Eltern in Wirklichkeit „nur“ ihre Adoptiveltern waren. Geschockt, verwirrt und auch ein wenig wütend rannte sie zu ihrer Oma, der guten Seele im Haus, mit der sie seit jeher über alles offen reden konnte.
Die Großmutter beruhigte sie, bat sie sich zu setzen, und erzählte ihr behutsam, wie es zu ihrer Adoption kam. Offenbar nur wenige Wochen alt, hatte man Angelina in ein Bündel Decken gehüllt neben einer Sammelstelle für Müll gefunden. Das Mädchen wurde daraufhin zur Adoption freigegeben, woraufhin ihre jetzigen Eltern sie aufgenommen und erzogen hatten, als wäre sie ihre eigene, leibliche Tochter.
Die Eltern hatten ihr nie davon erzählt, und Angelina hatte auch nie danach gefragt. Auch, weil die kleine Familie es in diesen Jahren nicht gerade leicht hatte. Der Vater fand lediglich im Ausland eine gut bezahlte Stelle. Und so wuchs Klein-Angelina hauptsächlich bei Mutter und Großmutter auf. Schließlich siedelte die Familie von Asien nach Kanada um, wo der Vater seinen Arbeitsplatz hatte. Für Angelina hieß es dort bereits in jungen Jahren, sich in einem fremden Land zurechtfinden zu müssen, wo sie von ihrer Heimat klimatisch und kulturell nicht weiter weg hätte sein können.
Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Denn völlig unerwartet starb plötzlich die Mutter an einem Herzinfarkt, als Angelina gerade mal 16 Jahre alt war. In einem Alter, in dem junge Menschen ohnehin schon genug irritiert sind, verlor sie plötzlich die Person, der sie am meisten vertraute. Es war schlimm und unglaublich schwer, aber dennoch musste das Leben weitergehen – irgendwie.
Als ihr Vater zwei Jahre später wieder heiratete, beschloss Angelina, nach Singapur zurückzukehren, um dort eine Ausbildung zur Krankenschwester zu beginnen. Da die zweite Ehe ihres Vaters keinen langen Bestand hatte, folgte er seiner Tochter einige Jahre später, und lebte noch viele glückliche Jahre mit Angelina und ihrer eigenen Familie zusammen, bis er im würdevollen Alter von 94 Jahren friedlich verstarb.
Ich konnte Angelinas Traurigkeit spüren, als sie über ihren Vater sprach. Sie vermisste ihn. Doch dann lächelte sie und sagte: „Vielleicht war ich ja tatsächlich ein Geschenk, das man neben einer Mülltonne gefunden hatte.“ Ein Geschenk an die bis dahin kinderlosen Eltern, die sie adoptierten. Und auch ein Geschenk an ihre eigene Familie, inklusive ihrer beiden Töchter, die mittlerweile selbst studieren und ihren Weg finden. Und letztlich auch ein Geschenk an die vielen „Familienmitglieder“, die sie jeden Tag bei ihrer Arbeit im Krankenhaus unterstützte.
Warum erzähle ich Angelinas Geschichte?
Erstens bin ich fest davon überzeugt, dass Widrigkeiten in unserem Leben oft einen Sinn haben. Angelinas Lebensweg war hart, dennoch behielt sie stets eine positive Einstellung und ging Rückschläge und Schwierigkeiten mit einer dem Schicksal zugewandten Einstellung an. Sie schien sich immer gefragt zu haben, was sie aus den Krisen und Problemen Positives mitnehmen kann. Vor allem war Aufgeben für sie nie eine Option. Jemand sagte mir einmal: „Sch%*ße ist der beste Dünger.“ Angelina musste sich in ihrem Leben tatsächlich mit viel davon auseinandersetzen, und sie nutzte das, um innerlich zu wachsen und anderen zu helfen.
Zweitens möchte ich die selbstlose Art würdigen, mit der Angelinas Pflegeeltern sie aufgenommen und großgezogen haben. Ich denke, so eine tiefgreifende und allumfassende Liebe ist die grundlegende Energiequelle unseres Lebens. Sie liebten sie, als wäre sie ihr eigenes Kind. Und schaut euch an, was aus ihrem kleinen Geschenk neben der Mülltonne geworden ist! Heute schenkt Angelina ihrer Umgebung jeden Tag genauso viel Liebe zurück, wie sie sie von ihren Eltern bekommen hat.
Meine heutige Herausforderung ist deshalb einfach: Wenn du eine schwierige Zeit durchmachst, mit scheinbar unerträglichen Umständen zu kämpfen hast oder vor neuen Herausforderungen stehst, versuche sie mit Angelinas Augen zu betrachten. Betrachte sie als etwas, das man meistern kann, auch wenn es zu diesem Zeitpunkt schwer vorstellbar erscheint. Vielleicht gibt es etwas zu lernen. Vielleicht gibt es etwas, das dich wachsen lässt. Vielleicht gibt es etwas, das dein Herz berührt.
Ich verstehe, dass das leichter gesagt ist, als getan. Aber schau dich um, suche dir Unterstützung und Hilfe. Teile deine Schwierigkeiten und öffne dein Herz. Nimm die Liebe und Güte wahr, die dich – wenn manchmal auch kaum wahrnehmbar – trotzdem umgibt. Mitmenschen wollen helfen. Auch du wirst die schwierigen Zeiten überstehen, und auch dir werden sich schon bald wieder Möglichkeiten eröffnen, damit du auf deine eigene Art und Weise einen Unterschied für andere machst. Einen positiven Unterschied, so wie unsere unbesungene Heldin Angelina.
Leave a Reply