Paul war 24 Jahre alt, als er sich dem Graduiertenprogramm einer globalen Investmentbank in New York anschloss. Da er in der Türkei aufgewachsen war, sprach er nur gebrochen Englisch, was wohl auch ein Grund dafür war, dass sein Hauptjob darin bestand, Papiere und Dokumente von Druckern einzusammeln.
Paul fragte sich deshalb, worin eigentlich der Sinn bestünde, sich jeden Tag aufs Neue ins Büro zu schleppen. Ohne Anleitung eines Mentors oder Vorgesetzten oder eines strukturierten Arbeitsplans fühlte er sich verloren und überlegte nach zwei Monaten, zu kündigen und wieder nach Hause zu ziehen.
Trotz aller Zweifel und Vorbehalte blieb Paul jedoch an seinem Schreibtisch sitzen. Eines Abends stürmte gegen 23 Uhr ein verärgerter leitender Bankangestellter an seinen Arbeitsplatz und schrie: „Wo zum Teufel sind hier alle hin?!“ Irritiert gab Paul zurück: „Sie sind nach Hause gegangen.“
„Verdammt“, tobte der Bankangestellte weiter, „was ist nur mit diesem Ort passiert? Ich brauche dieses Finanzmodell, und zwar dringend bis morgen früh um sieben Uhr!“ Vor Wut kochend starrte er Paul an. „Können Sie das machen, oder verschwenden Sie meine Zeit?“ Obwohl Paul ein solches Modell noch nie erstellt hatte, antwortete er: „Ja, natürlich kann ich das.“
Der Banker überreichte ihm einen riesigen Stapel Papiere, und Paul geriet verständlicherweise in Panik. Aber er machte sich dennoch unverzüglich an die Arbeit. Zunächst begann er, Finanzmodelle für diesen speziellen Kundenfall zu recherchieren. Um 4.30 Uhr dachte er, er hätte es geschafft, doch die Bilanz war nicht ausgeglichen. Verzweifelt versuchte er, den Fehler zu finden. Darüber schlief er ein und wurde von Kollegen geweckt, die zwei Stunden später eintrafen. Kurz vor Ultimo, also um sieben Uhr, fand er den Fehler.
Voller Vorfreude wartete Paul auf den leitenden Banker, seinen Auftraggeber, der allerdings erst am Nachmittag auftauchte und mürrisch fragte: „Haben Sie es?“ Paul nickte. „Dann senden Sie es per E-Mail“, bellte ihn der Banker an und ging weg. Paul war verwirrt. Kein Kommentar, keine Diskussion, kein Feedback. Trotzdem blieb er auch an diesem Tag bis kurz vor Mitternacht im Büro, bevor er, komplett erledigt von zwei Tagen Arbeit ohne viel Schlaf, beschloss, nach Hause zu gehen.
Er war gerade erschöpft ins Bett gefallen, als der Banker anrief und ihn anwies, fünf Uhr morgens am Flughafen zu sein, um mit ihm nach Chicago zu fliegen und den betreffenden Kunden zu treffen. Obwohl er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, fiel es Paul schwer, einzuschlafen. Und so machte er sich bereits um 3.30 Uhr auf den Weg.
Das Kundentreffen verlief ausgezeichnet für Paul, und so konnte er letztlich erleichtert, nachdem er 72 Stunden durchgearbeitet hatte, endlich seine verdiente Ruhe finden. Pauls Lohn: seine Karriere ging steil nach oben. Er arbeitete an verschiedenen Standorten weltweit und für einige der renommiertesten Banken.
Zu dieser Geschichte gibt es ein Gegenstück. Es ist die von Moritz Erhard – und auf tragische Weise rasch erzählt. Moritz Erhard war ein 21 Jahre junger Praktikant bei der Bank of America in London. Der äußerst ehrgeizige und beliebte junge Mann brach 2013 zu Hause in seiner Dusche zusammen, nachdem er 72 Stunden am Stück gearbeitet hatte. Als Todesursache wurde ein epileptischer Anfall ermittelt, der wahrscheinlich durch extreme Müdigkeit ausgelöst worden war.
Paul und Moritz erlebten, was viele junge Banker durchmachen und was intern sarkastisch auch „das magische Karussell“ genannt wird. Damit wird ein Prozess beschrieben, bei dem ein Taxi die Praktikanten nach Hause bringt, wartet, während sie duschen und sich umziehen, um sie dann zu einem weiteren langen Tag zurück ins Büro zu fahren.
Alexandra Michel, eine ehemalige Investmentbankerin und Professorin an der University of Pennsylvania, führte dazu eine faszinierende, neun Jahre dauernde Studie über Banker durch, beginnend mit deren Eintritt in die Vollbeschäftigung. Ihre Erkenntnisse darüber, wie Banker mit 100-Stunden-Arbeitswochen umgehen, waren verblüffend.
Während der Jahre eins bis drei betrachteten Banker ihren Körper als ein „Objekt“, angekurbelt von Adrenalin und Jugend, das sie jeden Tag zur Arbeit trieb. Ab dem vierten Jahr stellten sich die ersten gesundheitlichen Probleme und Zusammenbrüche ein, darunter chronische Schmerzen, Schlaflosigkeit, Panikattacken, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit sowie Verdauungsprobleme. Zu diesem Zeitpunkt betrachteten Banker ihren Körper mehr und mehr als Feind oder „Antagonist“, den es mit allen Mitteln zu besiegen galt.
Nach sechs Jahren wiederum begannen 40 Prozent der Banker, getrieben von regelmäßigen Gesundheitsproblemen, auf ihren Körper zu hören und mit ihm zu arbeiten. Eine Phase, die Michel als das Betrachten des Körpers als „Subjekt“ beschrieb.
Ein Banker fasste es folgendermaßen zusammen: „Als ich zusehends kränker und kränker wurde, begann ich mehr und mehr auf meinen Körper zu hören. Ich sah, dass jede Aktivität einen Endpunkt hat. Ich hatte immer alles über diesen Punkt hinausgetrieben und mehr und mehr Abstürze provoziert. Alles fing an, auf die eine oder andere Weise unproduktiv zu werden. Also hörte ich auf, Dinge zu erzwingen. Ich versuchte, offen zu bleiben für die Entwicklung von Situationen und dann nachzugeben, wenn ich das Gefühl hatte, Zwang anwenden zu müssen.“
Michel stellte in ihrer Studie fest, dass Banker, die mit dem Körper als „Subjekt“ arbeiteten, ihre Kreativität und ihr Urteilsvermögen verbesserten (s. Grafik). Sie arbeiteten immer noch wahnsinnig viele Stunden, aber jetzt auf eine nachhaltigere und damit gesündere und effektivere Weise.
Warum erzähle ich diese Geschichte?
Die meisten von uns sind nicht mit den zermürbenden Anforderungen von Investmentbankern konfrontiert, aber viele von uns sind überfordert von der 24/7-Verfügbarkeit, den endlosen E-Mails und unmöglich zu schaffenden Fristen. In solchen Zeiten laufen wir Gefahr, die Signale unseres Körpers zu ignorieren, was zu schweren und dauerhaften Gesundheitsproblemen und damit zu einer umfassenden „Unproduktivität“ oder gar Burnout führen kann.
Meine heutige Herausforderung für dich ist deshalb einfach: Wenn du spürst, dass du deinen Körper überforderst, regelmäßig Schmerzen ignorierst, zu wenig schläfst oder eine erhöhte Reizbarkeit zeigst, tritt einen Schritt zurück und spüre nach innen. Höre auf deinen Körper – und handele entsprechend. Ruh‘ dich aus, wenn nötig. Arbeite mit deinem Körper … nicht gegen ihn.
Besonders für uns Männer kann das schwierig sein, aber es zu ignorieren, macht alles nur noch schlimmer!
Und? Was sagt dir dein Körper gerade jetzt …?
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