Es ist 13.30 Uhr am 30. März 1983, als Holger Bethke und sein Freund Michael Becker an einer bestimmten Ecke in der Schmollerstraße in Ost-Berlin ankommen. Das Haus, nach dem sie suchen, liegt direkt neben dem „Todesstreifen“. Verkleidet als Handwerker versuchen sie so wenig Lärm wie möglich zu machen, als sie die verschlossenen Türen mit einem „Dietrich“ öffnen. Ihr Plan ist es, von hier aus über die Berliner Mauer zu fliehen. Das ist ebenso wagemutig und riskant wie lebensgefährlich. Doch wenn es funktioniert, schaffen sie es in ein komplett neues Leben.
Noch allerdings gilt es zwölf Stunden zu warten. Die Zeit verbringen sie auf dem Dachboden, essen ein paar mitgebrachte Brote, trinken Schnaps und rauchen Zigaretten. Kurz nach Mitternacht legen sie das Ende eines 105 Meter langen 6mm-Stahlkabels um den Schornstein. Das andere Ende wird an einer Angelschnur befestigt und soll mit einem Pfeil und Fiberglas-Bogen auf das Dach eines Hauses auf der anderen Seite der Grenze geschossen werden.
Dort, im Hof hinter dem Gebäude Bouchéstraße 68a in West-Berlin, wartet bereits Holgers Bruder Ingo. Der war 1975 auf ähnlich spektakuläre Weise aus der DDR geflohen, indem er durch die Elbe geschwommen war. Ingos Aufgabe ist es, die Angelschnur zu erhaschen und mit ihr das Stahlseil über die Berliner Mauer zu ziehen und fest über die Grenzanlage zu spannen. Mit einer an Rollen befestigten Winde, würden Holger und Michael dann in die Freiheit gleiten, wie bei einer Drahtseilbahn. Die ganze Kommunikation hatte die Großmutter von Michael Becker ermöglicht. Sie lebte bereits im Westen und hatte ein Funkgerät in einer Miracoli-Nudelpackung nach Ost-Berlin geschmuggelt.
Holger und Michael haben für ihre Mission drei Pfeile. Sie beginnen eine Stunde nach Mitternacht. Doch es läuft alles andere als geschmiert. Beim ersten Versuch reißt die Angelschnur. Der zweite Schuss verfehlt sein Ziel. Die Spannung ist nun am Siedepunkt. Aber der dritte Pfeil findet tatsächlich den Weg in sein Ziel, den Innenhof der Bouchéstraße 68a, auch wenn Ingo eine Weile braucht, bis er ihn gefunden hat. An der Stoßstange seines Autos befestigt, schafft er es tatsächlich, das Stahlseil über den Todesstreifen zu ziehen. Irgendwann ist es straff genug, um seinen Zweck zu erfüllen. Jetzt kann die eigentliche Flucht beginnen.
Einige Minuten später verlässt der 24-jährige Elektriker Holger Bethke durch ein Fenster den Dachboden. Er klammert sich verzweifelt an die kleine Rolle, die mit dem Stahlseil verbunden ist, und springt. Als er über die Mauer gleitet, sieht er den gesamten Todesstreifen zum ersten Mal … Panzersperren unter ihm, einen Wachturm 70 Meter entfernt, überall Stacheldraht und die endlose Mauer. Der Grenzabschnitt ist hell beleuchtet. Alle zehn Meter scheinen grelle Flutlichter das Sperrgebiet aus. Holger kann nicht anders, als an einem düsteren Gedanken hängenzubleiben. Was ist, wenn die Grenzer jetzt nach oben schauen und ihn entdecken? Schießen sie dann?
Doch niemand bemerkt etwas. Gut eine Minute später erreicht er das Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite in West-Berlin. Die Freiheit scheint zum Greifen nah, als doch noch etwas schiefzugehen droht. Holger landet nicht wie geplant auf dem Dach des Gebäudes Bouchéstraße 68a, denn das Drahtseil hat der Last mehr nachgegeben als berechnet. Allerdings ist das Glück auf der Seite des Tüchtigen. Holger entdeckt direkt unter dem Dach einen kleinen Balkon, über dessen Geländer er klettern kann.
Jetzt ist sein Freund Michael Becker an der Reihe. Der 23-jährige Heizungsinstallateur hängt mit einem Arm an seiner Rolle, gesichert nur mit einer Schlaufe. Auch er hat Schwierigkeiten kurz vor der Ziellinie. Das durchhängende Stahlseil bringt ihn nicht ganz bis ans Ziel. Hoch in der Luft hängend verlassen ihn fast die Kräfte, bevor ihn sein Freund Holger mit letzter Kraft ins Haus ziehen kann.
Momente später realisieren sie, was sie gerade getan haben, und können ihr Glück nicht fassen. „Es waren Gefühle von purer Freude und Glück, als wir auf der anderen Seite ankamen“, beschreibt Holger den Moment noch heute. „Nach acht Jahren hatte ich meinen Bruder zum ersten Mal wiedergesehen.“
Warum teile ich diese Geschichte?
Für mich zeigt sich hier die Kraft der Kreativität, die außergewöhnliche Erfindungsgabe des Menschen. Wie er immer wieder neue und brillante Ansätze findet, um außerhalb der vorgegebenen Denkschemen Lösungen für komplizierte Probleme zu finden.
Holger und Michael überwanden die wahrscheinlich zum damaligen Zeitpunkt tödlichste Grenze der Welt, indem sie die folgenden Werkzeuge benutzten:
• Pfeil und Bogen
• Eine Angelschnur
• Ein 105m langes 6mm-Stahlkabel
• Eine Rolle, um an dem Stahlseil hängend, gleiten zu können
• Ein Funkgerät, welches in einer Nudelpackung geschmuggelt wurde
• Ein Auto, um das Seil spannen und stabil halten zu können
Im täglichen Leben können wir manchmal in unserer Denkweise feststecken. Kreativ zu sein kann sehr herausfordernd sein. Wir könnten übersehen, dass die Lösung bereits da ist, irgendwo außerhalb der Box konventioneller Weisheit!
Deshalb ist meine Herausforderung für dich heute einfach: Blicke über das Konventionelle, das Bekannte hinaus. Wenn du ein sehr schwieriges Problem zu lösen hast und es keine offensichtlichen Antworten gibt, versuche dich gänzlich frei von allen Gewissheiten und Regeln zu machen.
Geh an die Problemlösung heran, als wenn es um deine Freiheit ginge … oder sogar dein Leben davon abhinge. Denke außerhalb der Box und probiere etwas bisher Unbekanntes aus. Suche nach Antworten an neuen Orten und vielleicht kannst du bereits existierende Dinge gut dafür nutzen.
Not macht wirklich erfinderisch. Wenn du einen starken Grund hast, dich unmöglichen Herausforderungen zu stellen und sie zu überwinden, wirst du – wie Holger und Michael – einen Weg finden, indem du die Kraft des kreativen Problemlösens entfesselst.
– Euer Jörg
Leave a Reply