Es war Anfang März 2020, als Shaun Brookhouse, der damalige Direktor des National College für Hypnose und Psychotherapie, seinen Tag nicht gerade in Bestform begann. Zunächst glaubte er, dass es nichts Besonderes war und er sich einfach nur „ein bisschen unwohl fühlte.“
Letztlich nahm sich Shaun trotzdem eine Woche frei von der Arbeit, um in Ruhe wieder zu Kräften zu kommen. Aber seine Situation verschlimmerte sich täglich und die Menschen um ihn herum begannen sich nun langsam Sorgen zu machen. Als es ihm immer schwerer fiel normal zu atmen, bestand ein Freund darauf, einen Krankenwagen zu rufen, und Shaun folgte diesem Rat, wenn auch widerwillig.
Von diesem Tag an erinnerte sich Shaun an nichts mehr. Zu Bewusstsein kam er erst wieder fünf lange Wochen später, als er aus einem induzierten Koma erweckt wurde, in welches er versetzt worden war, um seine Atemprozesse wieder in Gang zu setzen.
Es hatte sich herausgestellt, dass Shaun einer der ersten schwer erkrankten COVID-Patienten war.
Zum Zeitpunkt seiner Ankunft im Krankenhaus hatte die Pandemie gerade erst Fahrt aufgenommen, und die behandelnden Ärzte wussten nur sehr wenig über diese neuartige Viruserkrankung und deren Behandlungsmöglichkeiten.
Was jedoch schnell klar wurde war, dass Shaun’s Überlebenschancen aufgrund seines Alters in Kombination mit Übergewicht nicht sehr hoch waren. Trotzdem gelang es Ärzten und Krankenschwestern in einem heldenhaften Kampf, Shaun vor dem fast schon sicheren Tod zu retten. Dazu kam die „glückliche Tatsache“, wie er es selbst nannte, dass er in einem Lehrkrankenhaus des National Health Service von Großbritannien behandelt worden war.
Shaun überlebte also und normalerweise wäre das jener Zeitpunkt in einem Hollywood-Film, in dem gesagt würde „und so lebte er glücklich bis ans Ende“. Bei Shaun begann sich allerdings ein weiteres Kapitel zu entblättern, welches uns aus meiner Sicht eine wichtige Lektion lehren kann.
Als Shaun nämlich aus dem Koma aufwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war. Die ihm verabreichten Medikamente hatten eine starke psychotrope Wirkung entfaltet. Und so konnte Shaun nicht nur die Menschen um ihn herum nicht erkennen, sondern diese schienen noch nicht mal Gesichter aber stattdessen nur Bärte zu haben. Im Nachhinein wurde das alles verständlich, da das Krankenhauspersonal Masken, Schutzschilde und teilweise sogar komplette Quarantäneausrüstung trug. In seinen humorvollen Beschreibungen dieser Situation betonte Shaun später, dass ihn der Fakt, dass ausgerechnet die Frauen so viel schönere und üppigere Bärte zu haben schienen besonders verärgerte.
Aber Shaun machte sich in der bizarren Situation, in der er sich befand, auch große Sorgen. „ich fragte mich sofort: ‚Wo sind meine Freunde? Was habe ich getan, dass mich niemand besucht?‘“ Auch das machte im Nachhinein betrachtet natürlichSinn, immerhin war mittlerweile die halbe Welt abgeriegelt, und niemand durfte Patienten in Krankenhäusern besuchen.
Nach einer weiteren Woche auf einer normalen Station des Krankenhauses, wollte Shaun so schnell wie möglich nach Hause. Doch dort wurde er vor allem in den Nächten von Halluzinationen geplagt, die immer noch von den starken Koma-Medikamenten verursacht wurden. Gegen die Angst halfen vor allem die vielen Freunde um ihn herum, die begannen sich um ihn zu kümmern. Doch Shaun war eben Shaun. Und so sagte er seinen vielen freiwilligen „Pflegern“ bald, dass mit ihm wieder alles in Ordnung sei und er in seiner Lage jetzt auch recht gut allein zurechtkäme.
Er wollte einfach niemandem unnötig auf die Nerven gehen. Nach außen war er jetzt wieder „in Ordnung“. Aber tief im Inneren ahnte Shaun, dass nichts in Ordnung war. Wie viele andere „Überlebende“ einer traumatischen Situation durchlebte er jetzt die Krise nach der Krise, was dazu führte, dass er versuchte sich „zu distanzieren und einfach nur allein zu sein.“
In den folgenden Monaten begann sich Shaun mehr und mehr zu isolieren, was vor allem bedeutete, dass er zu Hause saß „stolz und nicht bereit, um Hilfe zu betteln“. Dabei kämpfte er mit einer mächtigen Hydra, die ihn mit körperlicher Schwäche, Schlafentzug, alten ungelösten psychischen Problemen sowie Schwierigkeiten bei der Unterscheidung zwischen Realem und Halluziniertem bearbeitete. Dazu kam ein für Trauma Patienten typisches Phänomen: die eindringlichen Schuldgefühle im Gegensatz zu anderen in gleicher Lage, am Leben geblieben zu sein.
Shaun war seit dreißig Jahren praktizierender Psychotherapeut und wusste deshalb eigentlich sehr genau, was da vor sich ging. Wenn überhaupt jemand mit seiner eigenen psychischen Gesundheit ringen könnte, dann müsste er es doch sein. Aber der Psychotherapeut Shaun konnte dem Trauma Patienten Shaun nicht helfen. Irgendwann wurde diese Erkenntnis so eindringlich, dass Shaun anfing an Selbstmord zu denken. Zum Glück eine Wegmarke, bei der Shaun erkannte, dass er, der es sonst so gut verstand Hilfe zu geben, selbst welche in Anspruch nehmen musste.
Er begann sich an die Menschen in seinem näheren Umfeld zu wenden und fand letztlich einen Therapeuten dem er sich anvertraute und der ihn aus dem Tunnel herausführte, in den er durch seine COVID-Erkrankung geraten war.
Mir selbst liegt es sehr am Herzen, Shaun‘s Geschichte hier in diesem Newsletter mit Euch zu teilen. Denn die nun wiederauflebende Pandemie hat uns in den vergangenen anderthalb Jahren mehr beeinflusst, als wir uns das selbst vielleicht zugestehen wollen. So manche von uns haben schwierige Erfahrungen gemacht. Wir haben eine Vielzahl von gesundheitlichen, beruflichen und persönlichen Herausforderungen bestanden, während uns vor allem die umfassenden Lockdowns sowie Reise- und Kontaktbeschränkungen ständige Unsicherheiten und massive Veränderungen in unserer Lebensweise beschert haben.
Nicht nur einmal kam da das Gefühl auf doch nun das Schlimmste überstanden zu haben. Doch eine Geschichte, wie die Shauns zeigt uns, dass die wirklichen mentalen Kämpfe oftmals noch lange nicht vorbei sind und „die Krise nach der Krise“ gerade erst begonnen hat.
Wie in Shauns Fall erwartet die Welt möglicherweise, dass wir „einfach weitermachen“. Aber schon das Leben außerhalb unseres eigenen gleicht einem Kampf gegen einen vielköpfigen Drachen. Drohende Restriktionen, Finanzkrise, Gesundheitskrise, Beschäftigungskrise, Klimakrise, Migrationskrise … wir scheinen umzingelt zu sein von Krisen und alle möglichen Arten von Kämpfen liegen noch vor uns.
Wir werden viel Belastbarkeit brauchen, um uns in dieser neuen, sich weiterhin ständig verändernden Welt zurechtzufinden. Manchmal kann sich dies wie ein einsamer, unendlich harter und hoffnungsloser Kampf anfühlen. Aber so muss es nicht sein.
Auch wenn Sie denken, dass Sie das alles irgendwie schaffen und keine Hilfe brauchen, wenden Sie sich bitte an ein Familienmitglied, einen Kollegen, einen Freund, einen Coach oder einen Therapeuten, wenn sie das Gefühl bekommen, dass sich die Dinge zu einer schweren mentalen Krise zusammenbrauen.
In Shaun‘s Worten: „Es ist wichtig, gute Leute um sich herum zu haben, Menschen, die sich um einen kümmern. Wenn Sie die nicht haben, müssen Sie sich melden. Sie müssen um Hilfe bitten. Es hilft nicht zu denken, dass Sie es besser wissen. Es ist keine Schande und keine Schwäche zu sagen: ‚Ich habe Probleme, ich brauche Hilfe.‘“
Und es ist wichtig es hier nochmal zu betonen: Menschen wollen helfen.
Man muss es nur zulassen.
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