Ich dachte eigentlich immer, dass ich eine Allergie gegen Katzenhaare habe. Als ich im Oktober 2014 mit meiner heutigen Frau Anne zusammenzog und sie ihren Kater Sebastian mitbrachte, war ich mir genau aus diesem Grund nicht sicher, ob das wirklich gutgehen kann. Aber mir wurde schnell klar, dass ich erstens gar nicht allergisch reagierte und zweitens nun eine neue Welt der Verspieltheit, der inneren Ruhe und des samtpfotigen Friedens bei uns Einzug hielt. Doch Sebastians Aufenthalt war am Ende nicht von Dauer. Im Oktober 2015 starb an den Folgen seiner Diabetes und anderer Komplikationen.
Ein Leben ohne Katze? Davon hatten wir schon nach wenigen Monaten genug, und so machten wir uns auf die Suche nach Sebastians Nachfolger. Unsere „Zielkatzen-Spezifikation“ war sehr klar: ein gutaussehender schwarzer Kater, genauso wie Sebastian. Und finden wollten wir ihn in Mrs. Wongs Katzenhaus, wo uns auch tatsächlich mehr als hundert Stubentiger begrüßten
Eine schien sich dort sofort brennend für unsere Gesellschaft zu interessieren und wagte sogar einen Sprung auf uns (siehe Foto). Allerdings war diese Katze so ungefähr das genaue Gegenteil von dem, was wir eigentlich gesucht hatten. Sie war weiblich, dreifarbig hell, statt schwarz und die Hälfte ihres Schwanzes hatte sie bei irgendeinem Kampf oder Unfall verloren.
Dennoch fragte ich am nächsten Tag meine Frau: „Glaubst du, dass diese Katze eine besondere Bedeutung für uns haben könnte, wenn sie es ist, die uns gleich nach wenigen Minuten anspringt und uns quasi auswählt? Sollten wir sie zu uns holen?“
Anne sagte ja und so zog „JW 2“ („JW“ – Abkürzung für “Jurong West”, ein Bezirk von Singapur, in dem sie gefunden wurde) bei uns ein.
Sie hatte die wohl schlechtesten Chancen von allen Katzen bei Mrs Wong, von uns gewählt zu werden, verpasste aber ihrem Schicksal selbst den entscheidenden Sprung. Es sollte für uns alle eine glückliche Fügung werden.
Aber warum erzähle ich diese Geschichte?
Nehmen wir mal an, ich hätte vor genau einem Jahr behauptet, dass sehr bald die ganze Welt zum Stillstand kommen wird. Dass keiner von uns mehr großartig verreisen kann, dass wir alle mehr oder weniger in unseren Wohnungen und Häusern gefangen sind, dass wir Angehörige und Freunde selbst zu Weihnachten vermutlich nicht sehen können und wenn ja, dass dann die Gefahr besteht, uns gegenseitig mit einem potentiell tödlichen Virus anzustecken.
Noch vor einem Jahr hätten Sie mich sicherlich nicht ernst genommen. Oder sie hätten vermutet, dass wir dann vor deutlich ernsteren Problemen stehen würden, als es momentan der Fall ist.
Wenn wir jedoch in Wirklichkeit auf nunmehr fast zehn Monate voller zum Teil drastischer Beschränkungen unseres einstmals so selbstverständlichen Lebens zurückblicken, haben wir wahrscheinlich alle eine bemerkenswerte Ressource in uns entdeckt: die Anpassungsfähigkeit.
Dieses Talent, welches in der Natur vor allem uns Menschen auszeichnet, wird in einem von mir sehr geschätzten Buch wunderbar beschrieben: „Ins Glück stolpern“ von Daniel Gilbert. Die zwei Hauptlektionen, die uns der Harvard-Psychologieprofessor darin erteilt, sind diese:
- Wenn wir uns das Maß an Frohsinn, Traurigkeit oder anderen tiefen Gefühlen vorstellen, die wir mit künftigen Ereignissen verbinden, fügt unser Verstand diesen Vorstellungen wichtige Details hinzu oder lässt andere weg, ohne dass wir es wirklich mitbekommen.
- Wenn vorgestellte Ereignisse dann tatsächlich eintreten, sind diese in den allermeisten Fällen ganz anders, als wir es uns zuvor vorgestellt haben. Damit wir von unerwünschten Wirkungen wie Schmerzen und Depressionen geschützt bleiben, verzerrt unser psychologisches „Immunsystem“ also die Wahrnehmung dieser Ereignisse zugunsten unserer ursprünglichen Vorstellungen.
Nun passt Covid-19 definitiv nicht zu unseren Zukunftsplänen oder unserer Vorstellung von Glück. Und doch geht der Alltag weiter und bietet uns neue Möglichkeiten, bestehende Paradigmen in Frage zu stellen.
Ist es nicht in gewisser Weise ein in „unser-Glück-stolpern“, wenn wir jetzt auf einmal mehr Zeit für unsere Familien haben, anstatt von all den vielen Ablenkungen unseres normalen Lebens vollständig ausgelaugt zu werden? Und ist es nicht auch etwas Positives, durch den Wegfall von langen Arbeitswegen mehr Zeit zu haben, um Sport zu treiben, uns auszuruhen sowie gesund zu ernähren und gut zu schlafen?
In diesem Sinne glaube ich, dass diese Situation uns vielleicht die Gelegenheit gibt, durch die Erkenntnisse von Professor Gilbert vor allem auch im letzten Monat Chancen zu sehen, die uns dieses so unglaublich schwierige Jahr eröffnet.
Denn auch die bevorstehende Weihnachtszeit wird durch all die bereits entschiedenen und womöglich noch kommenden Einschränkungen erheblich beeinträchtigt. Und wir werden nichts dagegen tun können. Welche Chancen liegen in dieser Situation? Zum Beispiel mal wirklich Pause zu machen und sich nicht von der üblichen Weihnachtswut, stressigen Last-Minute-Vorbereitungen oder Masseneinkäufen sowie sozialen Verpflichtungen wegschwemmen zu lassen.
Deshalb möchte ich Sie ermutigen, mit ruhigem Verstand und offenem Herzen in die letzten vier Wochen dieses so schwierigen Jahres 2020 zu gehen. Es bietet uns die Chance ein Weihnachten zu erleben, welches so noch nie stattgefunden hat und hoffentlich in der Zukunft auch nicht mehr stattfinden wird.
Zum Ende des Newsletters fragen Sie sich mit Sicherheit, wo der Schwenk zu „JW 2“ bleibt und was aus ihr geworden ist?
Nun, wir beschlossen, sie Rosie zu nennen. Sie war sicherlich nicht die schönste Katze der Welt (s.Foto) und das noch viel weniger, als sie in den ersten Wochen bei uns fast ihr gesamtes Fell verlor. Aber irgendwann hatte sie sich gut eingelebt und ist letztes Jahr mit uns von Singapur nach London gezogen.
Als auch hier der Lockdown begann, wurde sie zu unserem CEO, dem Chief Entschleunigungs-Officer, befördert.
Sie genießt es nicht nur sehr, dass wir nun ständig zu Hause sind und ihr den ganzen Tag Essen und Streicheleinheiten anbieten. Noch wichtiger ist, dass sie uns mit ihrem freundlichen Temperament und ihrer unendlichen Verspieltheit geholfen hat, unsere Wohnung als echtes Zuhause zu genießen.
Rosie war weder männlich noch schwarz und auch mit keinem vollständigen Schwanz versehen, und damit bei unserem ersten Aufeinandertreffen so weit weg von dem, was wir bei Mrs Wong eigentlich gesucht hatten. Wir sehen sie nun als eine Botin des Schicksals, denn als wir sie zu unserem Familienmitglied machten, sind wir tatsächlich über „unser Glück gestolpert“.
Mit Blick auf die kommenden Wochen wünsche ich mir, dass Sie in ähnlicher Weise über eine fröhliche, gesunde und kontemplative Adventszeit mit offenen Augen und Herzen „stolpern“.
Cheerio
– Jörg
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