Als Coach und Psychotherapeut in Ausbildung arbeite ich manchmal mit Klienten, deren persönliche Umstände mich tief berühren. Kürzlich hatte ich einen solchen Fall. Im Laufe der Zeit bemerkte ich, dass ich den vernünftigen Rahmen meiner Rolle als Coach längst verlassen hatte. Ich machte mich für den Kunden auf die Suche nach Lösungsmöglichkeiten und entwarf dabei sogar Kommunikationsentwürfe und andere Ideen.
Irgendwann wachte ich nachts auf und hatte das Gefühl, dass ich zu weit gegangen war und meinen Mentor Steve zu Rate ziehen müsste. Im Nachhinein war dies genau das Richtige, denn Steve erteilte mir eine tiefgreifende Lektion.
Als ich ihm die Fallgeschichte und die aktuelle Situation des Klienten schilderte, hoffte ich natürlich auf gute Ratschläge. Ich hätte es aber besser wissen müssen. Anstatt mir eine Lösung zu geben, begann Steve mir Fragen zu stellen. Was mich dazu zwang, die ganze Angelegenheit aus einer völlig anderen Perspektive zu betrachten.
Meine erste, ehrlich gesagt nicht wirklich überraschende Einsicht war: „Vielleicht bin ich zu weit gegangen mit meinem Wusch, dem Klienten zu helfen.“ Denn natürlich hatte ich frühzeitig damit angefangen, die Arbeit – die eigentlich dem Klienten vorbehalten war – selbst zu erledigen. Ich hatte den Grundsatz außer Acht gelassen, dass der Kunde unterstützt werden sollte, einen eigenen Weg nach vorn und raus aus seiner Verstrickung zu finden. Es klingt seltsam, aber als ich diese Sätze laut aussprach, wurde mir ihre einfache Wahrheit bewusst.
In meinem Gespräch mit Steve wurde ich außerdem an ein tiefes Paradoxon erinnert, mit dem sich viele Coaches, Therapeuten und andere Dienstleister konfrontiert sehen, die in sogenannten „helfenden“ Berufen arbeiten. Denn einerseits ist es natürlich die wichtigste Aufgabe, unseren Kunden zu helfen. Und zwar zu helfen, sich besser zu fühlen und Dinge zu erreichen, die sie erreichen wollen. Andererseits kann das oberste Gebot immer nur Hilfe zur Selbsthilfe lauten, weil alles andere den Coach oder Therapeuten überfordern und den Klienten entmachten kann.
Aber natürlich sind wir anfällig dafür, schnelle Erfolge erzielen zu wollen oder die ein oder andere Abkürzung zu wählen. Immerhin müssen wir Geld verdienen, um unsere eigenen Rechnungen zu bezahlen. Einen Teil der Arbeit des Kunden zu erledigen, kann uns die Illusion vermitteln, das angestrebte Ziel schneller zu erreichen.
Mein Lieblingsmönch, Ajahn Brahm, beschreibt diese Situation in der Geschichte eines jungen Arztes, der zu ihm kam, so verzweifelt, dass er kurz davor war, seinen Beruf aufzugeben. Der Mediziner hatte mehrere Monate lang einen Patienten betreut und versucht, dessen Leben zu retten. Als dieser trotzdem verstarb, ließ das den Doktor in Hoffnungslosigkeit verzweifeln.
Ajahn Brahm nahm sich dieser vermeintlichen Hoffnungslosigkeit an: „Mein junger Freund“, schrieb er ihm. „Du bist ein wunderbarer Arzt und wirst noch vielen anderen Patienten helfen. Aber vergiss nie: Deine Aufgabe ist es nicht allein zu heilen. Deine Aufgabe ist es, sich um Deine Patienten zu kümmern. Und wenn Du das gut machst, ist das gut genug! Weder Du noch Deine Patienten sollten erwarten, alles heilen zu können. Das liegt nicht ausschließlich in Deiner Hand!“ Der junge Doktor lächelte, als er dies las, und machte sich mit neuem Tatendrang an seine Arbeit.
Meine eigene Supervisionssitzung mit Steve endete mit einem kleinen Knall, als er mich beiläufig fragte, ob ich den Film „Das Leben des Brian“ kenne. Am Ende dieser legendären, schwarzhumorigen Komödie gibt es eine Szene, in der zahlreiche Menschen ihre Kreuze zur eigenen Kreuzigung tragen.
Irgendwann tritt einer der Zuschauer auf die Straße und bietet einem der Gepeinigten ein wenig Erleichterung an, indem er vorschlägt für eine kleine Weile dessen Kreuz zu tragen. Mit einem seligen Lächeln stimmt der Verurteilte zu und macht sich sofort aus dem Staub.
Plötzlich also trägt der hilfsbereite Zuschauer ein Kreuz zu seiner eigenen Kreuzigung.
Ich hatte sofort diesen Monty Python-Moment vor Augen, der mich eine fundamentale Lektion lehrte: Ich hatte meinem Klienten das Kreuz von den Schultern genommen und trug nun meinerseits an dessen Last. Das Interessante war, dieser Kunde war bei weitem nicht der Einzige. Ich hatte dasselbe auch schon für andere Klienten getan. Wow … was für eine Erkenntnis!!
Aber warum teile ich das mit euch?
Einige von uns sind versucht, ständig nett zu sein und anderen so viel wie möglich zu helfen. Wir verbringen viel Zeit damit, andere zu unterstützen und sie zu umsorgen, sei es zu Hause oder bei der Arbeit. Das kann leicht zu einem Punkt führen, an dem es zu viel wird, ein Punkt, an dem wir zu viele Kreuze anderer Leute tragen, was uns selbst in Gefahr bringt, unter der eigentlich „fremden“ Last zusammenzubrechen.
Deshalb müssen wir manchmal unseren natürlichen Hilfsdrang zurückhalten und uns, und anderen, Grenzen setzen.
Dabei fühlen wir uns vielleicht gelegentlich schuldig oder egoistisch, weil wir andere vermeintlich „im Stich lassen“. Aber wie wir es von Ajahn Brahm gelernt haben, es ist wichtig, sich „zu kümmern“, und nicht, ‚zu heilen“.
Wir müssen erkennen, dass die anderen ohne uns zurande kommen werden, und wir auch. Oder wie Nivida Chandra, Psychologin und Forscherin, einmal gesagt hat: „Gesundheit ist die Fähigkeit, andere Verantwortung für sich übernehmen zu lassen. Es ist die Fähigkeit, nein zu sagen, wenn sich die eigenen Energiereserven leer anfühlen.“
Meine Herausforderung an euch ist heute deshalb sehr einfach. Schaut Euch einmal in Eurem Privat- und Berufsleben um. Tragt Ihr manchmal zu viele Kreuze? Wenn ja, wem gehören sie und wie genau sehen sie aus?
Kannst du sie weglegen, um wichtige Energie für Dich selbst freizusetzen?
Natürlich kannst du!
– Euer Jörg
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