Heimat – dieses Wort hat für mich und die meisten Deutschen eine besondere Bedeutung. Es umfasst die Erinnerungen an Kindheit, Jugend und an Werte, Traditionen, Mitmenschen, die mich in einem kulturell mehr oder weniger kohärenten Umfeld begleitet haben. Meine Heimat liegt am Fuße des Erzgebirges im Osten Deutschlands.
Diese Region ist berühmt für seine langjährige Bergbautradition. 1168 war in der Nähe der heutigen Universitätsstadt Freiberg Silber gefunden worden, und bis zum Ende des 20.Jahrhunderts wurde in der gesamten Erzgebirgsregion nicht nur Silber, sondern auch Eisenerz, Uran, Blei, Kobalt, Nickel und Zink abgebaut.
Es muss nicht sonderlich erwähnt werden, dass diese Arbeiten bis weit ins industrielle Zeitalter hinein physisch extrem anstrengend waren. Es wurde lange und hunderte Meter tief „unter Tage“ gearbeitet. Die Bedingungen waren eigentlich ständig lebensbedrohlich.
Noch härter wurde es im Winter, wenn die Bergleute wochen- und monatelang kein Tageslicht zu sehen bekamen. Sie verließen ihre Häuser früh im Dunkeln, arbeiteten im Dunkeln und kehrten erst im Dunkeln zurück.
Es ist kein Wunder, dass diese Menschen eine starke und tief verwurzelte Sehnsucht nach Licht hatten. Denn Licht bedeutete Leben, Sicherheit, Hoffnung.
Darüber hinaus waren die Löhne so dürftig, dass auch die Frauen zum Lebensunterhalt beitragen mussten. Sie stellten Garne und andere Textilstoffe her. Nach Schätzungen verdienten mehr als 15.000 Frauen in dieser Zeit ihr Geld mit diesem Handwerk, welches sich im 18. Jahrhundert zu einer leistungsfähigen Industrie weiterentwickelte. Bis dahin allerdings war auch das sogenannte „Klöppeln“ eine mühsame Angelegenheit, und so schufen diese Frauen eine hoch interessante Tradition, die im Erzgebirge als “Hutz`n” bekannt ist. Wörtlich übersetzt bedeutet es: „zusammenrücken“.
Um Geld für Heizkohle zu sparen, traf sich eine Gruppe von Frauen in einem ihrer Häuser, um dort gemeinsam zu arbeiten. Auf diese Weise konnten sie nicht nur die Heizkosten teilen, sondern sich auch unterhalten und dabei ihre wertvollen Textilien herstellen. Die Ehemänner schlossen sich ihnen abends an und schnitzten. Die Wärme der Hutz‘n-Stube mit ihrer Atmosphäre des Plauderns, Geschichtenerzählens, des Scherzens und gemeinsamen Singens half den Menschen im Erzgebirge, auch unter härtesten Lebensbedingungen und kältesten Wintern zu überleben und sich bei Laune zu halten. Und Ergebnis waren natürlich Gegenstände, in denen alles zusammengebracht wurde: das Holz, das Licht, die Wärme.
Bestes Beispiel ist der Schwibbogen, der um 1740 in seiner heutigen Form zum ersten Mal hergestellt wurde. Ursprünglich als Kerzenhalter gedacht, repräsentiert der Schwibbogen die Sehnsucht der Bergleute nach dem (Tages-) Licht. Er wurde in die Fenster der Häuser gestellt, damit die Bergleute nach einem langen Arbeitstag ihren Weg nach Hause fanden.
Gleichzeitig symbolisierten die Kerzenlichter für die Bergleute einen gut beleuchteten, warmen, sicheren und gemütlichen Ort, wo sie die Möglichkeit hatten, sich vor einem weiteren anstrengenden und gefährlichen Tag auszuruhen, um dann am nächsten Morgen wieder in die Dunkelheit aufzubrechen. In den Schnitzereien des Schwibbogens (siehe oben) sind die drei Schlüsseltraditionen des Erzgebirges vereint: der Bergbau in der Mitte, das Textilhandwerk links und die Holzschnitzerei rechts.
Der Schwibbogen, zur Adventszeit ins Fenster gestellt, ist für mich ein starkes Symbol meiner Heimat, die ich dieses Jahr nicht besuchen kann, um mit Freunden und Familie wie gewohnt Weihnachten zu feiern. Es ist eine traurige Sache, aber angesichts der Entwicklung der COVID-Pandemie sind wir uns alle einig, dass dies die beste Entscheidung ist.
Trotzdem, wenn ich zu Hause in London sitze und unseren eigenen Schwibbogen (ein Geschenk sehr guter Freunde – Danke Katrin & Thomas!) betrachte, fühle ich eine Nähe zu den Bergleuten des Erzgebirges der Vergangenheit. Seit Beginn der Pandemie scheinen wir alle einen langen und dunklen „Winter“ zu erleben, in dem wir weder viel „Sonnenlicht“ noch einige der wichtigen und uns nahestehende Menschen gesehen haben. Unser Leben war stark eingeschränkt und manchmal fühlte es sich an, als würden wir ständig durch monotone tägliche Routinen marschieren, die von der Pandemie diktiert wurden.
Aber wir scheinen auch auf magische Weise Wege gefunden zu haben, angesichts solcher Widrigkeiten nicht aufzugeben. Irgendwie haben wir es geschafft, das Licht der Hoffnung in uns am Leben zu erhalten. Manchmal war dieses Licht stark und kraftvoll. Zu anderen Zeiten war es nur noch eine schwach flackernde Kerze. Aber es war immer da, so wie es vor Jahrhunderten für die Bergleute im Erzgebirge da war.
Mit Blick auf die Zukunft wissen wir alle, dass der Weg auch weiterhin holprig und hart sein wird. Aber ich glaube fest daran, dass es Hoffnung gibt. Wir haben nicht nur schon den kürzesten Tag des Jahres am 21. Dezember hinter uns, sondern ich kann auch spüren, dass wir alle diese gemeinsame Hoffnung auf ein viel besseres Jahr 2021 haben.
Der Schwibbogen wurde geschaffen, um Menschen Hoffnung und Kraft zu geben, wenn die Welt für sie am dunkelsten war. Dieses Jahr mag sich sehr von dem unterscheiden, was für uns normal ist, aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch etwas Besonderes sein kann.
Mal innehalten, einen Schritt zurückgehen, eine Pause einlegen und sich ausruhen – und dann haben wir möglicherweise die Portion Extra-Energie, die Kraft und Zuversicht, um in ein besseres Jahr 2021 zu gehen.
In diesem Sinne möchte ich Euch und Euren Familien Frohe Weihnachten wünschen … egal wie „normal“ es sein wird.
– Euer Jörg
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