Neun Monate nachdem er 1942 seine Frau geheiratet hatte, wurde der österreichische Neurologe und Psychiater Victor Frankl mit seiner Familie als Juden von den Nazis inhaftiert und ins Ghetto Theresienstadt deportiert.
Dort wurde Frankl‘s Frau zur Abtreibung ihres ungeborenen Kindes gezwungen und sein Vater verstarb nur wenige Monate später an den Folgen von Unterernährung und einer Lungenentzündung. Zwei Jahre danach wurden Victor Frankl und seine Familie, zusammen mit 1.500 anderen Häftlingen abermals in einen Zug gesetzt, um vermeintlich als Zwangsarbeiter in eine der NS-Rüstungsfabriken transportiert zu werden.
Nachdem sie tagelang in fensterlosen Waggons eingepfercht waren, schaffte es einer der Insassen einen Blick nach draußen zu erhaschen. Was er seinen Mitreisenden von einem Bahnhofsschild vorlas, ließ diese schockiert erstarren: „Auschwitz“. Ein Wort, das Angst und Schrecken auslöste, denn jeder wusste: Aus diesem Lager kommt man nicht mehr lebend heraus.
Direkt bei der Ankunft wurde Frankl von seiner Frau getrennt, was bedeutete, dass es nun überhaupt keine Verbindung mehr zu seinem früheren Leben gab. Allem beraubt und von seinen Familienmitgliedern getrennt, blieb nur noch eine Häftlingsnummer und die nackte Existenz. Keine Lieben mehr, keine Hoffnung mehr.
Stattdessen musste er sich durch harte Arbeit, extrem reduzierte Essenrationen und drohende Vernichtung jeden Tag aufs Neue mit dem einen, alles beherrschenden Thema beschäftigen: dem Tod. Der Gang in die Gaskammer schien unvermeidlich.
Frankl hat die Hölle von Auschwitz überlebt. 1946 hat er sie in einem Buch beschrieben: „Man’s Search For Meaning“ (dt.: „… Trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“).
Nach seinen Beobachtungen durchliefen alle KZ-Häftlinge drei Phasen. Dem Aufnahmeschock (Phase 1) folgte eine Phase der emotionalen Teilnahmslosigkeit und Verwurzelung im Lageralltag (Phase 2) und danach die Ernüchterung nach der Befreiung (Phase 3).
In seinem Buch beschrieb Frankl aber auch, was ihn und andere Insassen unter diesen brutalen Umständen am Leben hielt. Er nannte es die „Flucht nach innen“.
Diese war besonders in den „grausamen Morgenstunden“ erforderlich, nachdem neun Insassen auf 2 x 2,5 Metern zusammengepfercht irgendwie versucht hatten zu schlafen, um nach einer kurzen Nacht abrupt geweckt und in die kalte Dunkelheit hinausgetrieben wurden, wo ein weiterer Tag harter Arbeit und unkalkulierbarer Lebensbedrohung begann.
In solchen Momenten, so beschreibt es Frankl in seinem Buch, flüsterte gelegentlich ein Kamerad: „Was wäre, wenn uns unsere Frauen jetzt sehen könnten?“
Als Frankl diese Frage zum ersten Mal hörte, tauchte sofort das Bild seiner Frau in seinem Kopf auf. Ein Bild, das so lebendig und klar war, dass er es wie folgt beschrieb: „Ich habe Gespräche mit meiner Frau geführt. Ich hörte ihre Antwort. Ich sah ihr Lächeln. Ich sah ihre sehnsüchtigen und aufmunternden Blicke. Ihre Augen strahlten stärker als die tiefstehende Sonne an diesem bitterkalten Wintermorgen.“
Manchmal fuhr der Psychologe stundenlang mit seinen Tagträumen fort und floh nach innen in die unglaublich starke Präsenz seiner Frau, deren Bilder in vielen schrecklichen Momenten als seine Anker fungierten. Frankl war der festen Überzeugung, dass Häftlinge, die „nach innen flüchten“ konnten, höhere Überlebenschancen hatten. Die Anker hielten sie am Leben.
Andere, die keine Anker oder sie verloren hatten, artikulierten das häufig mit den Worten: „Ich habe nichts anderes mehr vom Leben zu erwarten.“ Das war ein Satz, den Frankl kraftvoll umkehrte: „Es hängt nie davon ab, was wir vom Leben erwarten. Es kommt vielmehr darauf an: Was erwartet das Leben von uns?“
Frankl wurde von Auschwitz in zwei weitere Arbeitslager verlegt und erkrankte schließlich an Typhus. Um einen tödlichen Gefäßkollaps zu vermeiden, hielt er sich nachts wach, indem er das Manuskript seiner Doktorarbeit rekonstruierte, bis am 27. April 1945 sein Lager von US-Truppen befreit wurde.
Kurz darauf erfuhr Frankl die traurige Wahrheit, dass nicht nur seine Mutter und sein Bruder, sondern tragischerweise auch seine Frau ermordet worden war.
Das hieß für ihn, neue Anker, neue Bedeutung aus dem Nichts schaffen. Voller Verzweiflung über seine Verluste fand er Unterstützung bei seinen Freunden und in seinem Ziel, die Erfahrungen in einem Buch zu dokumentieren.
In den folgenden Jahren stürzte sich Frankl in seine Arbeit, wurde Vorstand der Wiener Neurologischen Poliklinik, gründete die Österreichische Ärztegesellschaft für Psychotherapie und wurde deren erster und einziger Präsident. 1955 erhielt er eine Professur für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien und Gastprofessuren führten ihn in die USA (Harvard University, Dallas und Pittsburgh). Er galt als einer der größten Fachleute auf seinem Gebiet.
1947 heiratete er in zweiter Ehe Eleonore Katharina Schwindt, die über 50 Jahre nicht nur seine Lebensgefährtin war, sondern ihn auch wissenschaftlich unterstützte. Zusammen hatten sie eine Tochter, Gabriele. Das Leben ging weiter. Irgendwie.
Warum erzähle ich diese Geschichte?
Fast alle von uns haben das Glück, eine solche Schreckenszeit nie selbst erlebt zu haben. Grausamkeiten, Todesangst und die daraus resultierenden Traumata, die Victor Frankl und Millionen andere erlitten haben, sind uns erspart geblieben.
Und doch hat jede Zeit, jede Epoche ihre eigenen Abgründe, Kämpfe und Herausforderungen, denen wir uns täglich stellen müssen. Ereignisse, die uns überwältigen und in denen wir uns manchmal hilflos fühlen.
Können wir in solch schwierigen Zeiten „nach innen fliehen“, wie es Frankl und andere Überlebende des Holocausts getan haben? Können wir uns Anker vorstellen, die uns über Wasser halten? Können wir uns nicht auch fragen: „Was erwartet das Leben gerade von mir?“
Natürlich können wir. Vielleicht erwartet das Leben von uns, dass wir mehr für unsere eigene Meinung einstehen; Grenzen ziehen; besser auf uns selbst aufpassen; loslassen, was andere von uns erwarten; oder vielleicht mit mehr Gleichmut zu leben, ohne ständig zu urteilen.
Was immer es auch sei, ich glaube, dass das Leben genau hier und jetzt von jedem von uns etwas erwartet.
Was ist das für Dich?
– Jörg
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