Dem 20-jährige Jonny Benjamin ging es nicht gut. Kürzlich war bei ihm eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden, was dazu geführt hatte, dass er in eine schwere Depression abrutschte, und er schließlich an einem kalten Januarmorgen im Jahr 2008 beschloss, seinem Leiden ein Ende zu bereiten.
Als er lediglich mit einem T-Shirt bekleidet die Waterloo-Brücke in London betrat und dort über das Geländer stieg, war er mehr als bereit dazu, sich das Leben zu nehmen. Kurz bevor er springen wollte, sprach ihn aber plötzlich von hinten jemand an: „Hey Kumpel, kannst du mir sagen, warum du hier am Rand dieser Brücke sitzt“, fragte der unbekannte Fremde. Mit düsterem Gesicht und verzagter Stimme antwortete Jonny, dass er sich das Leben nehmen wolle. Doch der Fremde ließ nicht locker und verwickelte Jonny weiter in ein rettendes Gespräch: „Bitte tu das nicht, mein Freund. Tu es bitte nicht. Lass uns einfach einen Kaffee zusammen trinken und ein bisschen über deine Sorgen sprechen.“ Der freundliche Ton, das aufrichtige Mitgefühl und die große Besorgnis überzeugten den Verzweifelten, und so stieg er zurück über das Geländer. Kurz darauf wurde er in ein Krankenhaus gebracht und durchlief dort ein Reha-Programm.
Der unbekannte Mann hatte durch seine behutsame Intervention Jonnys Leben gerettet. Aber er war verschwunden, ohne Angaben zu seiner Person zu machen. Das Bedauern darüber, seinem Lebensretter niemals gedankt zu haben, inspirierte Jonny Benjamin ganze sechs Jahre nach seiner Genesung zu einer Suchaktion, die er #FindMike nannte.
Am 14. Januar 2014 veröffentlichte Jonny ein Video, dass ihn noch einmal auf der Waterloo-Brücke zeigte. Die Hoffnung war, dass ihn Mike – den er so nannte, weil der Name in Großbritannien weit verbreitet ist – finden und kontaktieren würde.
Innerhalb von 24 Stunden wurde der Clip 43.000 Mal geteilt und mehr als eine Million Mal angesehen. Am nächsten Morgen wurde die Kampagne von der ITV-Frühstücksshow aufgegriffen und somit in ganz Großbritannien verbreitet. Prominente wie Stephen Fry, Boy George und Premierminister David Cameron nahmen an der Suche teil. Aber die Geschichte wurde nicht nur in Großbritannien viral, denn sie begann in Fernsehsendungen auf der ganzen Welt zu erscheinen.
Bald kamen Nachrichten von Leuten, die glaubten, jemanden zu kennen, der „Mike“ sein könnte, und zwei Wochen nach Beginn der Kampagne wurde der echte „Mike“ tatsächlich gefunden. Sein richtiger Name war Neil Laybourne und es war seine Verlobte gewesen, die ihn auf die Suche hingewiesen hatte.
Nur wenig später war es so weit: In einem berührenden Moment wurden Jonny (links) und Neil (rechts) wieder vereint, und Jonny bekam endlich die Gelegenheit, den „Fremden von der Brücke“ zu umarmen und ihm von Herzen zu danken.
Traurigerweise können viele Selbstmordversuche nicht wie in Jonny’s Fall verhindert werden. Fast 10.000 Menschen begehen in Deutschland jährlich Selbstmord. 75% von ihnen sind Männer.
Roman Kemp (rechts), ein bekannter englischer Fernsehmoderator, hat letztes Jahr seinen Produzenten und besten Freund Joe Lyons (links) auf diese Weise durch dessen Suizid verloren.
Kemp drehte daraufhin einen bewegenden Dokumentarfilm, den er „Unseren stillen Notfall“ nannte, und in dem er mit Ärzten und Nothelfern sowie mit jungen Menschen spricht, die durch Selbstmord Freunde verloren haben.
Was mich in dem Film am meisten berührte, war, als Roman mit einer Gruppe von Teenagern aus Belfast sprach, die Freunde von Carl, dem „Klassenclown“ gewesen waren, der sich im Mai 2020 im Alter von nur 15 Jahren das Leben genommen hatte.
Keiner der Jungen wusste, dass ihr Kumpel unter Depressionen litt. In der Aufarbeitung ihrer Gefühle und der Trauerarbeit waren sich, so zeigte es die Dokumentation, alle einig, dass solche Tragödien nur verhindert werden können, wenn Betroffene sich in Gesprächen öffnen und ihre Probleme mitteilen können.
Eine andere Gruppe von Teenagern in Reading, die 2017 ihren Freund Ashley durch Selbstmord verloren, hat dafür eine bemerkenswerte Regel aufgestellt. Sie nennen sie die „zwei OKays“, was nichts anderes bedeutete, als sich gegenseitig zur Begrüßung stets zweimal zu fragen. Nach einem „Hey Mann, wie geht es dir?“ und dem uns allen bekannten „Mir geht es gut!“, folgt stets ein: „Hey, wie geht es dir wirklich?“
Diese simple Praxis, die den Freund oder die Freundin ermutigt sich mitzuteilen, wie es ihm oder ihr wirklich geht, kann verhindern, dass es einen „stillen Notfall“ gibt, in dem sich der Freund oder die Freundin vielleicht hoffnungslos und allein fühlt.
Gerade im Angesicht der immer noch fortdauernden Corona-Pandemie erleben einige unserer Freunde möglicherweise dunkle Zeiten, ohne dass das äußerlich zwingend sichtbar werden muss. Meine Herausforderung und mein Wunsch für Dich ist es heute, deshalb, einen Freund (oder einen Fremden) zu erreichen und mit ihm oder ihr über die „beiden OKays“ zu sprechen.
Frage sie, wie es ihm oder ihr geht… und frage sie dann, wie es wirklich geht? Mit einem Freund zu sprechen, ihm zuzuhören und ihm zu sagen, dass jemand für ihn da ist, kann einen immensen Unterschied machen. Vor allem Männer fühlen sich oft „gefangen“ in ihrem gesellschaftlichen Rollenbild und denken, dass sie ihre Gedanken und Gefühle nicht teilen können. Der einzige Fluchtweg aus diesem inneren Kerker ist in den schlimmsten Fällen der Freitod. Und das ist immer und für alle unmittelbar davon Berührten eine unfassbare Tragödie.
Auch wenn es einfach klingt, weil der Schlüssel die Öffnung in die Kommunikation ist, so müssen wir dennoch unsere engen Freunde deutlich wissen lassen, dass wir für sie da sind, wann immer sie mit jemandem sprechen wollen.
Mit diesem einfachen Akt der Anteilnahme und des Mitgefühls können wir einen großen Unterschied im Leben eines Menschen bewirken – und vielleicht sein Leben retten. Genauso, als wenn Du vielleicht einmal Jemanden hinter dem Geländer einer Brücke stehen siehst…
– Euer Jörg
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