Was kann uns eine Tasse über die Liebe erzählen?

Vor kurzem bin ich auf zwei Geschichten gestoßen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun hatten – und die mich doch nicht mehr losgelassen haben. Immer wieder tauchten sie in meinen Gedanken auf. Irgendwann spürte ich: Da gibt es eine Verbindung.

Die erste Geschichte

Sie stammt aus dem Hörprogramm To Love and Be Loved von Stephen Levine und seiner Frau. Darin erzählt er von einem jungen Paar, das eine außergewöhnlich liebevolle Beziehung aufbaute. (Beim Nacherzählen der Geschichte habe ich kleine Details ergänzt, ohne den Gesamtinhalt zu ändern.)

Ihr gemeinsamer Weg war nicht immer einfach. Schon am Anfang ihrer Beziehung wurde das Paar geprüft, mit Alltagsproblemen und Herausforderungen konfrontiert, die sie leicht hätten auseinanderreißen können. Doch sie entschieden sich, gemeinsam durch die Schwierigkeiten zu gehen. Mit jedem Schritt wuchs ihre Verbundenheit.

Eine große gemeinsame Leidenschaft war das Wandern und Bergsteigen. Immer wieder brachen sie gemeinsam auf zu Bergtouren, entdeckten neue Pfade und bestiegen Gipfel. Jede dieser Reisen stärkte ihr Band, ließ sie staunen über die Natur und über das Geschenk, einander zu haben.

Ihr größter Traum war es, einen besonderen Berg in Neuseeland zu besteigen – berühmt für seinen atemberaubenden Wasserfall. Jahrelang sprachen sie davon, legten Geld zur Seite, schmiedeten Pläne. An ihrem zehnten Hochzeitstag war es endlich so weit. Sie machten sich auf die lange Reise nach Neuseeland.

Photo by Matthew Stephenson (https://unsplash.com/@matthewryanstephenson)

Nach einer kurzen Akklimatisationszeit sahen sie ihren Berg dann zum ersten Mal. Das Wetter war perfekt. Der ferne Wasserfall glitzerte im Sonnenlicht, als ob die Tropfen in Zeitlupe tanzten. Sie kletterten los. Der Weg war steil, die Steine glitschig vom Moos und vom Sprühnebel des Wassers. Aber sie waren erfahren. Immer wieder hielten sie inne, atmeten tief durch, lächelten einander an. Alles war genauso, wie sie es sich erträumt hatten.

Doch dann, kurz vor dem Ziel, geschah etwas Unerwartetes.

Der Mann kletterte ein Stück voraus, spürte die Gischt im Gesicht, hörte das Donnern des Wassers. Er lächelte, denn sie erreichten nun den letzten Abschnitt des Wasserfalls.

Dann drehte er sich um.

Und sie war nicht mehr da.

Später sagte er immer wieder denselben Satz: „Als ich mich umdrehte, war sie weg.“

Kein Schrei, kein Geräusch, kein Hinweis darauf, was geschehen war. Eben noch hatte sie hinter ihm gelächelt – und im nächsten Augenblick war sie weg.

Ich spürte, wie mir beim Zuhören die Kehle eng wurde. Diese plötzliche Leere, dieser Schock – ein Augenblick, und das ganze Leben ist anders. Ich stellte mir vor, wie er dastand: voller Liebe, voller Freude – und im nächsten Moment voller unendlichem Verlust. Ich musste das Hörbuch zur Seite legen, da Gedanken an meine eigene Frau hochkamen – und wie unsäglich ein solcher Verlust für mich wäre, sie so plötzlich zu verlieren. Es war sehr berührend und traurig.

Die zweite Geschichte

Vor vielen Jahren wurde der bekannte thailändische Mönch Ajahn Chah einmal gefragt: „Wie können wir in einer Welt glücklich sein, in der nichts Bestand hat, in der alles jederzeit zerbrechen kann?“

Ajahn Chah schwieg eine Weile, nahm dann eine Tasse vom Tisch, hielt sie hoch und sagte leise:

„Für mich ist diese Tasse bereits zerbrochen. Ich weiß, dass diese Tasse in der Zukunft wirklich einmal zu Bruch gehen wird, und mit diesem Bewusstsein kann ich sie schon heute von Herzen genießen. Ich kann sie wertschätzen, solange sie noch heil ist. Und wenn sie eines Tages zerbricht, habe ich doch viele Erinnerungen an Augenblicke, in denen ich sie voller Wertschätzung betrachtet habe.”

Was sagen uns die beiden Geschichten?

Für mich sind sie wie zwei Seiten derselben Wahrheit. Alles verändert sich. Alles, was wir lieben, wird eines Tages verschwinden.

Doch wenn wir es betrachten, als sei es schon zerbrochen – wie die Tasse in Ajahn Chahs Händen – dann können wir es im Hier und Jetzt umso tiefer wertschätzen und genießen. Wir begegnen der Tasse mit Achtsamkeit, Respekt, Dankbarkeit und Liebe.

Und wenn wir unsere Liebsten heute so behandeln, als könnten sie morgen nicht mehr da sein, dann haben wir mehr Freude an jedem gemeinsamen Moment und erfahren später weniger Reue darüber, die gemeinsame Zeit nicht ausreichend gewürdigt zu haben.

Wir sagen jetzt das „Danke“, das sonst vielleicht ungesagt bleibt. Wir schenken die kleine Geste, die sonst vielleicht aufgeschoben wird. Wir halten inne und spüren: Es ist ein Geschenk, dass wir gerade zusammen hier sind.

Ja, diese Geschichten sind vielleicht etwas „heavy“. Sie konfrontieren uns mit der Zerbrechlichkeit des Lebens. Und doch finde ich steckt in ihnen eine leise Schönheit. Sie erinnern uns daran, das Kostbare nicht aufzuschieben, sondern es jetzt zu leben.

Darum möchte ich dich einladen, kurz innezuhalten und dich zu fragen:

• Wie gehst du mit deinen „Tassen“ um – den Menschen und Dingen, die dir am Herzen liegen?
• Was würdest du heute tun, wenn du dir bewusst machst, wie zerbrechlich eure gemeinsame Zeit ist?
• Welche Worte, welche kleine Geste der Liebe oder Dankbarkeit könntest du noch heute schenken?

Vielleicht reicht schon ein Anruf. Ein stilles ‚Danke‘. Ein Lächeln. Vielleicht ist es ein Abendessen, das du überraschend kochst. Oder einfach ein Moment, in dem du wirklich zuhörst.

Was immer es auch ist, die „Tasse“ – den gemeinsamen Moment – mit ganzem Herzen jetzt wertzuschätzen kann eines Tages vielleicht alles bedeuten.