Letzten September habe ich einen Online-Kurs zum Thema „Psychologische Forschung für praktizierende Therapeuten“ begonnen. Eigentlich sollte das Ganze nicht mehr als 20 Stunden dauern und mir letztlich, so war es formuliert, „Fähigkeiten und Fertigkeiten des sozialwissenschaftlichen Forschers“ als Teil meines Weges zum Psychotherapeuten vermitteln.
Ich hatte die Kursunterlagen schnell durchgearbeitet und auch den entsprechenden Test bestanden. Aber dann musste ich noch einen Aufsatz zum Thema schreiben. Ich setzte mich also hin, schrieb mein Essay, gab es ab und wähnte mich, nachdem ich zusammen circa 30 Stunden für den Kurs aufgebracht hatte, fertig. Aber das war, so sollte sich bald rausstellen, eindeutig nicht der Fall. Es gab noch eine wesentliche Lektion zu lernen.
Der Aufsatz-Prüfer befand den ersten Teil des Essays als gut, stellte mir aber für den zweiten Mängel aus. Ich sollte mein vorgeschlagenes Forschungsprojekt nochmal vertiefen und weitere Quellen hinzufügen. Also verbrachte ich weitere 20 Stunden an meiner Arbeit, schrieb um, verbesserte und ließ dem Aufsatz jeden erdenklichen Fleiß angedeihen. Ende Januar reichte ich das Essay erneut ein und war mir sicher, diesmal die Angelegenheit als erledigt betrachten zu können.
Nur wenige Wochen später erhielt ich den Befund meines Prüfers: Nicht bestanden! Es gebe noch „einige Probleme mit meiner Thesis …“ … Ich erspare Euch die Details, aber ich war nun doch mehr und mehr verzweifelt.
Also investierte ich weitere 20 Stunden, um einen völlig neuen Forschungsvorschlag auszuformulieren. Diesen besprach ich mit meinem Supervisor, und was soll ich sagen? Sein Feedback fiel wieder negativ aus. Jetzt geriet ich tatsächlich ins Schlingern. Ich hatte mehr als 60 Stunden für einen Kurs aufgewendet, der ursprünglich nur 20 Stunden hätte dauern sollen, und hatte weniger als je zuvor eine Idee, wie ich ihn am Ende bestehen könnte.
Ich hatte genug!
Voller Verzweiflung legte ich meinen Aufsatz wütend beiseite. Ganze sechs Monate ließ ich ihn auf meiner To-do-Liste vor sich hinfaulen. Erst Anfang September fand ich endlich den Mut, dem verdammten Ding den nächsten Besuch abzustatten.
Und dann geschah wirklich etwas Magisches: Beim erneuten Lesen des zweiten Feedbacks meines Bewerters wurde mir auf einmal klar, was er bemängelt hatte. Ich musste eigentlich nur drei zentrale Punkte meiner zweiten Version optimieren und ein bisschen genauer erläutern. Also setzte ich mich sofort hin und mit der Unterstützung von Professor Spitzmüller sowie meinem Supervisor war ich nach nur drei Stunden Arbeit fertig – und konnte abgeben.
Ich weiß ehrlich gesagt immer noch nicht, ob meine Arbeit mit „bestanden“ bewertet wird. Aber ich habe zumindest das Gefühl, dass meine Chancen viel besser sind als zuvor. Und im Gegensatz zu den vergeblichen Versuchen zuvor erforderte es beim dritten Mal keinerlei hektische Aufwallungen.
Indem ich meine Arbeit fast ein halbes Jahr nicht angesehen hatte, eröffnete sich mir die Möglichkeit, sie mit ganz neuen Augen zu betrachten. Nicht sie war faulig geworden, sondern ich in einem gewissen Sinne reifer, reifer für einen neuen Blick auf meine Arbeit. War mein anfänglicher Ansatz noch vergleichbar gewesen mit „die Kuh endlich vom Eis holen“, so war der zweite von größerer Klarheit geprägt und binnen kurzer Zeit ausformuliert. Die Formel dafür hieß: größere Effizienz durch geringeren Energieaufwand!
Kürzlich hörte ich mir einen Podcast an und stellte dabei fest, dass bei der Arbeit an meinem Aufsatz dem wunderbaren taoistischen Konzept von Wu Wei begegnet war. Bei Wu Wie handelt es sich um das Konzept des „Nichtstuns“. Der berühmte chinesische Gelehrte und Philosoph Tao Te Ching hatte Wu Wei um 600 v. Chr. formuliert und folgendermaßen erklärt: „Das tun, was darin besteht, nichts zu tun … und damit wird sich Ordnung durchzusetzen.“
Das klingt nach dem kompletten Gegenteil von dem, was normalerweise meine Lebensmaxime sind. Es klingt nach Aufgeben oder Versagen. Aber bei Wu Wei geht es nicht um Resignation oder Faulheit oder Desinteresse. Die Idee dahinter ist, dass wir aufhören sollten, Dinge zu erzwingen, und lernen sollten, weniger zu tun. Denn wenn wir diesen Rat befolgen, gewinnen wir ein viel klareres Bild davon, was wirklich getan werden muss. Und zwar naturgemäß, der Sache entsprechend und förderlich. Entscheiden wir uns mit dieser Geisteshaltung dann für etwas, sind unsere Handlungen fokussierter, entschlossener und wir können die gewünschten Ergebnisse in viel kürzerer Zeit erzielen.
Noch im Februar hätte ich problemlos weitere 25 bis 30 Stunden damit verbringen können, meinen Forschungsvorschlag zu überarbeiten und zu überdenken. Aber nachdem ich es für eine längere Periode zur Seite gelegt und mit neuen Augen noch einmal betrachtet hatte, war es schnell erledigt.
Lektion gelernt!
Auch wenn es schwer zu verstehen und auf die heutige Welt mit unserer hektischen Geschäftigkeit vielleicht auf den ersten Blick nicht anwendbar erscheint, glaube ich fest daran, dass Wu Wei mehr ist als nur die philosophische Eingebung eines Mannes, die vor Tausenden von Jahren aufgezeichnet wurde. Es ist eine zutiefst wesentliche Einsicht … universell und zeitlos … die uns modernen Menschen helfen kann, aus dem Hamsterrad der immer gleichen Verhaltensweise herauszufinden.
Unser Leben erscheint immer komplexer und den ständigen Wandel nehmen wir mehr und mehr als Unfreiheit wahr. Es scheint immer weniger möglich, die Kontrolle zu behalten und Projekte zum Erfolg zu führen, ohne dabei über zahlreiche Stolpersteine balancieren zu müssen. Oft aber liegt die Kraft darin, Kontrolle aufzugeben, und es liegt Harmonie und Frieden darin, innezuhalten und einfach mal nichts zu tun! Der britische Religionsphilosoph Alan Watts nannte das auch das „Nicht-Erzwingen“.
Und so lautet meine heutige Herausforderung an Dich folgendermaßen:
Identifiziere einen Bereich in Deinem Leben, in dem Du Dich möglicherweise zu sehr anstrengst, ohne dass Du sichtbare Wirkung erzielest. Finde etwas, wo Du Dinge versucht hast zu erzwingen, das Problem aber immer noch nicht gelöst ist. Fällt Dir etwas ein? Ja?
Lege es zur Seite. Kümmere Dich einfach nicht darum. Übe das Nichtstun. Warte mit offenen Augen und Ohren, auch wenn es nur eine Stunde, eine Nacht oder ein paar Tage sind. Du wirst genau wissen, wann der richtige Zeitpunkt ist, um noch einmal einen Blick darauf zu werfen.
Ich wette, dass Du nach einer Zeit des Nichtstuns eine völlig neue Perspektive auf die Angelegenheit entwickelt haben wirst. Und die wird es Dir ermöglichen, das Problem klarer zu sehen, schneller die Lösung zu erkennen und Dich effizienter auf den Weg dahin zu machen.
Das ist das Versprechen der wunderbaren und vergessenen Kunst des Wu Wei!
Probiere es aus und lass‘die Magie wirken!
– Euer Jörg
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