Versuchen Sie sich zu erinnern! Und zwar an einen Vorfall, indem sie vom Verhalten eines anderen Menschen so berührt waren, dass es in Ihnen eine sehr heftige emotionale Reaktion ausgelöst hat. Vielleicht war es jemand, dessen Verhalten unhöflich, egoistisch, arrogant, gierig, gemein oder starrköpfig gewesen ist. Na, fällt Ihnen da etwas ein?
Warum frage ich das? Nun, dazu muss ich etwas weiter ausholen. Im Rahmen meines eigenen Psychotherapie-Studiums bin ich kürzlich auf ein interessantes psychologisches Konzept gestoßen, welches mir eine interessante Lektion erteilt hat – und zwar enthüllt durch zwei Joghurtbecher.
In dieser Lektion dreht sich alles um jene Schatten, die laut des weltberühmten Psychoanalytikers C.G. Jung „als Teil des Unterbewusstseins existieren und sich aus unterdrückten Ideen, Schwächen, Wünschen, Instinkten und Mängeln zusammensetzen“. Es ist die dunkle Seite unserer Natur, die wir nie wirklich anerkennen wollen. Die Schatten enthalten nämlich all jene Dinge, die für die Gesellschaft nicht akzeptabel sind und deshalb auch nicht für unsere eigene persönliche Moral und unser allgemeines Wertesystem.
Der amerikanische Psychologe John Wellwood, der ebenfalls als Psychotherapeut, Lehrer sowie Autor in Erscheinung getreten ist, hat dieses Phänomen in eine großartige Metapher gekleidet:
Er sagt, dass wir alle in einen wundervollen Palast mit Hunderten von faszinierenden Räumen hineingeboren werden. Jedes Zimmer repräsentiert ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal und da wir jung sind, bestaunen wir jedes Zimmer mit seinem individuellen Charakter, seiner Einzigartigkeit und Schönheit, und besuchen es deshalb auch regelmäßig. Der Palast repräsentiert unsere komplette Persönlichkeit: das „Gute“, das „Böse“ und alles, was sich zwischen diesen zwei Polen vorstellen lässt.
Während wir älter und zu Erwachsenen werden, kommen immer mehr Besucher in unseren Palast, die uns sagen, dass bestimmte Räume nicht so schön und akzeptabel sind, wie wir immer gedacht haben. Und so fangen wir an, genau jene Räume immer seltener zu besuchen. Nach und nach schließen wir Zimmer für Zimmer aus unserem Leben aus, verbannen so viele interessante Aspekte unserer Persönlichkeit und leben schließlich statt in einem unübersichtlichen, aber faszinierenden Palast in einer überschaubaren Drei-Zimmer-Wohnung.
Im Rahmen meines Studiums wurde ich herausgefordert, mit einigen meiner eigenen Schatten zu arbeiten. Die Ergebnisse waren faszinierend, da die Wiederverbindung mit meinen Schatten eine beträchtliche Menge an vorher blockierter Energie freisetzte. Es braucht nämlich viel Kraft, Aspekte unserer Persönlichkeit zu verbergen. Nichts ist anstrengender, als NICHT authentisch zu sein.
Um allerdings nicht den Überblick zu verlieren, entschied ich mich, zunächst nur mit zwei meiner Schatten zu arbeiten. Ich wählte „den eigenen Egoismus“ und „ich selbst als Opfer“. Mein Experiment bestand darin, eine Woche lang zu beobachten, wann ich, wenn auch nur in schwacher Ausführung, entweder egoistisch handelte oder mich selbst in die Rolle des „Opfers“ brachte.
Dabei stellte sich zunächst die Frage: Warum ist es nützlich, an sich selbst solche Tendenzen zu beobachten? Ganz einfach, wenn wir Eigenschaften – vor allem die tendenziell negativen – in uns entdecken, beginnen wir, diese zu „integrieren“ und zu „besitzen“. Damit werden wir nicht mehr so stark von ihnen „angezündet“ wenn wir sie bei anderen feststellen.
Und was hat das alles mit Joghurtbechern zu tun?
Na ja, eines Morgens öffnete ich unseren Kühlschrank und fand zwei schöne 500g-Becher Joghurt vor. Der eine war ungeöffnet, beim anderen war noch ein kleiner Rest übriggeblieben. Ich hasse es, wenn ich früh, noch schläfrig mit dem Löffel in fast leeren Joghurtbechern herumkratzen muss. Also machte ich mir den noch unberührten Joghurt auf und ließ den bereits angerissenen für meine Frau Anne übrig.
Und? Hier war er: der Egoismus! Ich hatte ausschließlich in meinem eigenen Interesse gehandelt und wusste das sofort. Ich lächelte und fühlte, wie eine Welle der Freude durch meinen Körper lief. Kein Verstecken des Schattens mehr! Was für eine Erleichterung.
Noch am selben Abend beim Fußball foulte mich ein anderer Spieler, und obwohl ich tatsächlich einen Schlag abbekommen hatte, genoss ich es kurz, so zu tun, als ob es wirklich schmerzhaft wäre. Bingo, ich hatte das Opfer gespielt. Und wieder lächelte ich!
Carl Gustav Jung schien mich persönlich zu fragen: „Willst du gut sein … oder ganz?“ Immer gut zu sein, ist wie der Versuch, einen Ball unter Wasser zu halten. Das geht, aber nur mit viel Energieaufwand und akkuratem „Fassadenbau“.
In den Tagen seit meiner Entdeckung hatte ich das Gefühl, in meinem „Egoismus“ einen neuen Freund gefunden zu haben. In Situationen, in denen ich vorher an der einen oder anderen Stelle nachgegeben hätte, habe ich mich stark gemacht und mein Territorium freundschaftlich verteidigt. Mir wurde klar, dass es hilfreich sein kann, gelegentlich egoistisch zu sein. Besonders wenn es darum geht, sich selbst zu schützen oder sich um seine Bedürfnisse zu kümmern. Gleichzeitig fühle ich mich auch in Situationen entspannter, wenn andere egoistisch handeln.
Die zwei Becher Joghurt haben mich gelehrt, dass es okay ist, gelegentlich eigensinnig zu sein. Also wer bin ich, um dasselbe bei anderen zu verurteilen? Indem ich diesen Aspekt meiner Natur annehme, öffne ich die Tür zu einem wunderbaren und verborgenen Raum in meinem „inneren Palast.“
Warum erzähle ich diese Geschichte?
Manchmal lösen Menschen um uns herum aus, was wir über uns selbst lernen müssen. Sie machen uns mit unseren „Schatten“ bekannt. Der Schmerz, unsere wahrgenommenen Fehler einzugestehen, zwingt uns vielmals dazu, diese zu vertuschen. Aber wenn wir bestimmte Aspekte von uns selbst verleugnen, riskieren wir eine Überkompensation, um „gut“ zu bleiben. Das kann anstrengend sein und führt in den meisten Fällen zu einem nicht kompensierbaren Energieverlust.
Ich möchte Sie herausfordern. Wenn Sie in den nächsten Tagen von etwas Negativem „angezündet“ werden, überprüfen Sie, ob es ein eigener, verborgener Schatten sein könnte, der zu Ihnen spricht. Ein Raum in Ihnen, den Sie möglicherweise abgeschlossen haben?
Überlegen Sie, ob Sie dieses Verhalten jemals gezeigt haben, es vielleicht gerade jetzt zeigen oder es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in Zukunft zeigen könnten. Sobald Sie eine dieser Fragen mit Ja beantworten, haben Sie den Prozess begonnen, sich diese Eigenschaft tatsächlich „anzueignen“ und sie zu „integrieren.“
Genau dann beginnt die „Magie“ zu wirken, die uns auf dem Weg zur eigenen „Ganzheit“, der Authentizität bringt.
Debbie Ford, Autorin von „The Dark Side Of The Light Chasers“, sagt: „Es ist möglich, unsere sogenannten Schwächen anzuerkennen und zu akzeptieren. Tatsächlich können sich diese Qualitäten als versteckte Stärken erweisen. Vielleicht ist ein Hauch von Faulheit genau das, was der Workaholic braucht, oder ein vernünftiger Egoismus kann uns vor Erschöpfung und Bitterkeit bewahren.“
Probieren Sie es doch einmal aus!
-Joerg
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