Der damals über 50-jährige US-Amerikaner Christopher „Chris“ Voss war bereits mehrere Jahre in der Anti-Terror Task Force des FBI tätig gewesen, als er Anfang der 1990er Jahre mehr und mehr von der Idee fasziniert wurde, professioneller Unterhändler bei Geiselnahmen zu werden.
Um sein Glück zu versuchen, ging er zu Amy Bonderow, die damals das Krisenverhandlungsteam des FBI in New York leitete. Nachdem er bei ihr seinen Wunsch vorgetragen hatte, erwiderte sie: „Nun ja, Verhandlungsführer bei Geiselnahmen wollen viele werden. Aber die notwendigen Voraussetzungen dafür besitzen wenige. Haben Sie denn eine Ausbildung oder einen Abschluss in Psychologie oder Soziologie oder wenigstens Erfahrungen mit diesen Themengebieten?“
Chris Voss hatte nichts davon. Aber aufgeben wollte er seine Vision trotzdem nicht. Und so hakte er noch einmal nach: „Irgendwas muss sich doch in diese Richtung machen lassen?!“
Überraschenderweise antwortete ihm Amy Bonderow mit einem Vorschlag. „Melden Sie sich doch erst einmal als Freiwilliger bei einer Suizid-Hotline.“
Obwohl Chris Voss mit dieser Offerte nur wenig anzufangen wusste, meldete er sich wenig später tatsächlich bei HelpLine, einer von Vincent Peale gegründeten Suizid-Hotline. Das Besondere dort: Die Anrufer sollten am Telefon keine Ratschläge erhalten, sondern von den Beratern innerhalb von 20 Minuten zu einem „besseren Ort geleitet“ werden, indem man ihnen einfach nur zuhörte.
Nachdem Chris bereits mehrere Wochen bei HelpLine gearbeitet hatte, war er bereit für seine erste Leistungsbeurteilung durch seinen Vorgesetzten Jim, der dafür eines seiner Hotline-Gespräche mithörte. Der Anruf kam von einem Taxifahrer namens Daryl, der Angst hatte, nach draußen zu gehen, da er sich nicht mehr sicher fühlte. Wenn er aber nicht mehr arbeiten könne, würde er die Hypothek auch nicht mehr bezahlen können und riskieren, sein Haus und seine Familie zu verlieren. Daryl steckte also in einem dunklen Loch aus tiefster Verzweiflung.
Chris Voss machte sich an die Arbeit und fragte zunächst:
„Daryl, wann hat dich das letzte Mal jemand auf der Straße verletzt?“
„Nun, ich meine, es ist lange her“, sagte Daryl.
„Wie lange?“
„Ich kann mich nicht wirklich an ein bestimmtes Datum erinnern, Chris. Vielleicht ein Jahr, schätze ich“.
„Dann könnte man sagen, dass die Welt in letzter Zeit nicht zu hart für dich war, Daryl?“
„Ja“, sagte Daryl. „Das könnte man so sagen.“ Von diesem Punkt an verlief die Unterhaltung gut und Chris schaffte es sogar, Daryl ein paar Mal zum Lachen zu bringen. Am Ende konnte der Taxifahrer keinen weiteren Grund mehr nennen, nicht nach draußen zu gehen. Er beendete den Anruf mit „Danke Chris, dass du so einen tollen Job gemacht hast.“
Chris hatte das sichere Gefühl, er habe seine Prüfung als Telefonseelsorger bestanden und ging zu seiner Leistungsbeurteilung. „Jim, hast du gehört, wie Daryl mir gratulierte?“, sagte er zu seinem Chef. „Ich habe ihn total von seinem Trip heruntergeholt, Mann. Ich habe das Gespräch „gerockt!“
Doch Jim war überraschenderweise ganz anderer Meinung: „Ich möchte nicht zu hart sein, Chris, aber du warst schrecklich! Am Ende unserer Anrufe sollten die Anrufer sich selbst gratulieren und nicht DIR. SIE sollten einen Weg nach vorn, einen Plan für das Morgen finden, nachdem SIE handeln können. Ganz ehrlich, Daryl erhielt in dem Gespräch nichts davon.“
Nachdem Chris Voss das Ganze ein wenig hatte sacken lassen, erkannte er, dass es bei dem Anruf mit dem Taxifahrer mehr um ihn selbst, sein Ego, sein Denken und seine Lösungen gegangen war … und nicht um Daryl. Von diesem hatte er nur ein vages „Ja, ich vermute“ erhalten, aber er hatte ihn nicht ermutigt, darüber zu sprechen, was ihn so negativ bewegt, dass er sich nicht mehr vor die Tür traut. Daryl dürfte sich weiterhin nicht gehört und unglücklich gefühlt haben.
Warum erzähle ich diese Geschichte?
Weil auch diese uns etwas über unseren Alltag erzählt und ich Ihnen vom „aktiven Zuhören“ berichten möchte.
Beginnen wir mit einer Frage: Wenn wir uns heute neben unseren unzähligen täglichen Verrichtungen mit anderen Menschen verbinden, und das immer öfter online, wann nehmen wir uns wirklich Zeit, dem anderen zuzuhören? Vor allem aber: Wie hören wir – und wie werden wir gehört?
Forscher haben untersucht, wie wir miteinander kommunizieren und auf was wir reagieren. Die Ergebnisse sind verblüffend. In einem Gespräch nimmt ein Zuhörer nur ca. sieben Prozent des Gesagten über die Sprache wahr und auf, während er gleichzeitig bereits seine Antworten entwickelt. So wie es Chris bei Daryl getan hat. Der Rest wird auf andere Weisen übermittelt – über Stimmlage (38 Prozent des Gesagten) und über Körpersprache (55 Prozent).
Was bedeutet das? Für den Zuhörer, dass er seinen Gegenüber nicht nur über das Gesagt wahrnimmt, sondern auch über dessen Stimme und Körper. Dafür aber braucht es vollständige Zuwendung, und nicht nur ein Halbes oder ein Viertel davon, während wir bereits an Entgegnungen oder vermeintlichen Lösungen arbeiten.
Dieses Vermögen verstehe ich als fundamental, um unsere Mitmenschen „aktiv“ und damit wirklich zu hören. Denn nur so kann sich der Gehörte als wahrgenommen und damit respektiert empfinden. Allein die Erfüllung dieses menschlichen Grundbedürfnisses ermöglicht automatisch eine positive Denkweise, die nebenher laut Forschung die Produktivität unseres Gehirns um satte 31 Prozent steigern kann. Dies wiederum ist das Fundament, um gemeinsam an Lösungen arbeiten zu können. Dann haben Sie die Möglichkeit, wirklich Einfluss zu nehmen.
Wenn also Ihr Kollege das nächste Mal mit einem Problem zu Ihnen kommt oder Ihr Kind versucht, mit Ihnen zu sprechen, widerstehen Sie dem natürlichen Drang, sofort in den „Lösungsmodus“ zu schalten. Hören Sie stattdessen darauf, WIE etwas gesagt wird. Hören Sie aus dem Klang der Stimme, was wirklich vor sich geht, und nutzen Sie dann die goldenen Zutaten des aktiven Zuhörens:
- Effektive Pausen
- Minimale Aufforderungen (wie „Ja“, „OK“ oder „Ich verstehe“)
- Spiegelung dessen, was gesagt wurde (die letzten drei bis vier Wörter wiederholen)
- Benennen der Emotion („das macht dich anscheinend sehr wütend“)
- Paraphrasieren und Zusammenfassen
Beobachten Sie, wie sich ihr Gegenüber gehört, respektiert und mehr in Kontrolle fühlt.
Und was wurde nun aus dem Helden unserer Geschichte, Chris Voss?
Fünf Monate nach seiner Arbeit bei HelpLine kehrte er zum FBI zurück und berichtete Amy Bonderow, was er gelernt hatte. Sie war beeindruckt. Er trat in das Verhandlungsprogramm des FBI ein und wurde schließlich der führende Unterhändler für nationale und internationale Geiselnahmen.
In seinem Bestseller „Never Split The Difference!“ erklärt er wie aktives Zuhören den Verhandlungsansatz des FBI revolutioniert hat und ihm und seinen Kollegen hilft, zahlreiche Fälle von Geiselnahmen erfolgreich zu lösen.
Wenn das Prinzip des „aktiven Zuhörens“ in extremen Krisensituationen und bei Geiselnehmern funktioniert, warum sollte es dann nicht für die Menschen funktionieren, mit denen wir in unserem täglichen Leben interagieren, insbesondere für diejenigen, die uns am nächsten stehen?
Versuchen Sie es doch einfach einmal. Vielleicht haben wir ja aus einem ganz bestimmten Grund nur einen Mund – und dafür zwei Ohren…
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