Der 25. Mai 2005 war ein schöner Frühlingsabend in Istanbul – und sollte schon wenig später zu einer denkwürdigen Nacht werden. Im Finale der Champions League trafen der AC Mailand und der FC Liverpool aufeinander, und etwa eine Stunde vor Anpfiff begann Liverpool-Trainer Rafael Benitez seinem Team die Startformation bekanntzugeben.
Nachdem der deutsche Nationalspieler Dietmar „Didi“ Hamann den siebenten Namen gehört hatte, begann er zu begreifen, dass er in dem wahrscheinlich wichtigsten Spiel seiner Karriere zum Anpfiff nicht auf dem Platz stehen würde.
In seinem Biografie-Besteller „The Didi-Man – My Love-Affair with Liverpool“ beschrieb er diesen Moment wie folgt: „Mein Magen drehte sich um. Danach habe ich nichts mehr gehört. Ich saß also auf der Bank. Es traf mich wie ein Hammerschlag.“
Hamann fährt fort: „Ich muss allerdings meinem früheren Trainer, Gerard Houllier, dafür danken, wie ich mit diesem Niederschlag trotzdem irgendwie umgehen konnte. Denn Gerard hatte uns Spielern immer wieder gesagt: ‚Wenn ich euch nicht für das Spiel ausgewählt habe, habt ihr zwei Minuten, um die Enttäuschung darüber zu überwinden. Doch dann hebt ihr den Kopf und geht in die Vorbereitung, als würdet ihr spielen.‘“
Das Spiel in Istanbul begann für Dietmar Hamann also als Zuschauer von der Bank. Aber es sollte sich auch für den Deutschen zu einer unglaublichen Geschichte entwickeln. Zunächst war es der AC Mailand, der die Partie nach Belieben zu dominieren schien. Nach nicht mal einer Minute stand es 1:0 und bis zur Halbzeit waren noch zwei weitere Tore für die Italiener gefallen. Die Lage für die Liverpooler schien aussichtslos, denn ihr Gegner schien aus einem anderen Fußball-Universum zu kommen.
Ausnahmslos alle dachten in diesem Moment: Das war es, Spiel vorbei.
0:3 gegen ein Weltklasse-Team in Topform. Das kann keiner drehen. Diese Hoffnungslosigkeit unterstreicht der Fakt, dass die englischen Buchmacher von da an eine Quote von 395 zu 1 auf einen Liverpooler Sieg anboten!
Als ich Didi Hamanns Buch las und über diesen schicksalshaften Moment in der Halbzeit dieses irren Finales nachdachte, zwang sich mir sofort eine Analogie zur jetzigen Situation auf.
Was ist, wenn wir uns in der aktuellen Lage mit der Corona-Pandemie genau jetzt vor Beginn der zweiten Hälfte befinden?
Denken wir über den kaum wettzumachenden Rückstand nach, über unsere kaum existenten Chancen und unsere Enttäuschung, das Schicksal zu unseren Gunsten wenden zu können?
Ich vermute, dass es für nicht wenige von uns ein bisschen so ist – und auch verständlicherweise so ist. Es fühlt sich wie ein 0:3-Rückstand gegen einen übermächtig scheinenden Gegner an. Die Pandemie dominiert unsere berufliche und finanzielle Lage, sie beeinflusst auf eine kaum noch erträgliche Weise unsere sozialen Bedürfnisse, sie verhindert, dass wir reisen und uns frei fühlen können und letztlich ist sie eine konkrete Gefahr für Gesundheit und Leben von uns und uns nahestehenden Menschen.
Mit Ausblick auf die kommenden Wochen (oder sagen wir in Bezug auf ein Fußballspiel die zweiten 45 Minuten) sieht alles danach aus, als wenn es nicht einfacher wird. Die Infektionszahlen steigen, jetzt kommen Herbst und Winter und einen Impfstoff wird es voraussichtlich auch nicht vor dem Frühling nächstes Jahr geben.
Und genau deshalb ist es aus meiner Sicht ein guter Moment, sich noch einmal die Lehre von Dietmar Hamanns früherem Trainer bei Liverpool, Gerard Houllier, vor Augen zu führen: „Du hast zwei Minuten Zeit, um Deine Enttäuschung zu überwinden. Danach hebst Du den Kopf und bereitest dich auf deinen Einsatz vor!“ Mir gefällt diese Aufforderung und ich bin fest davon überzeugt, dass wir es in den kommenden Wochen für uns und unser Leben anwenden können. So wie die Spieler des FC Liverpool, die sich in der denkwürdigen Istanbuler Nacht am 25. Mai 2005 aufrafften, um Fußball-Geschichte zu schreiben.
Für Dietmar Hamann war darin eine besondere Rolle vorgesehen. Er erinnerte sich: „Ich wurde von Rafa Benitez in der Kabine gebeten, mich auf meinen Einsatz in der zweiten Hälfte vorzubereiten. Benitez wollte auf ein anderes System umstellen und ich spielte die Schlüsselrolle in der Überlegung. Aber es war ehrlich gesagt ziemlich trostlos. Ich konnte mir in dem Moment viele andere, weit bessere Orte vorstellen, um meinen Mittwochabend zu verbringen.“
In Wirklichkeit nahm er sich genau jene zwei Minuten, um seine Enttäuschung über das verloren geglaubte Spiel zu überwinden. Danach hob er den Kopf und begann sein Spiel zu spielen.
Wie durch ein Wunder erzielte Liverpool zwischen der 54. und 60. Minute drei Treffer und überstand auch die übrigen 60 Minuten inklusive Nachspielzeit bis zum Elfmeterschießen, ohne von den eigentlich überlegenen Mailändern einen weiteren Treffer zu kassieren.
Der erste Liverpooler Schütze war niemand anderes als Dietmar Hamann, dem nach diesem Spiel viele einen großen Anteil an der fast schon unglaublichen Wende gaben. Dank eines hervorragenden Torhüters Jerzy Dudek gewannen die Engländer dieses Duell mit 3:2 und hoben am Ende den begehrten Pokal in den Istanbuler Nachthimmel.
Nennen wir es also Halbzeit in dieser fatalen Pandemie. Wir liegen 0:3 zurück und kommen alle aufs Feld, um die Partie zu Ende zu spielen. Es sieht nicht gut aus, aber es ist auch nicht vorbei. Wir haben hier unseren Beitrag für unsere Familien, unsere Jobs, unsere Freunde, unsere Communities und auch für uns selbst zu leisten.
Lassen wir uns nicht von schlechten Nachrichten, Enttäuschungen oder den vor uns liegenden Herausforderungen paralysieren. Deshalb ist meine Herausforderung an Euch für die kommenden Wochen diese:
Gönnt euch zwei Minuten Enttäuschung über mögliche weitere schlechte Nachrichten – nicht mehr. Dann hebt den Kopf und bereitet euch vor.
Macht weiter und arbeitet im Team mit den Menschen, die Euch nahestehen.
Dann gewinnen wir, so wie diese tapferen Liverpooler in dieser magischen Nacht in Istanbul.
Cheerio
– Jörg
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