Neben vielen anderen Voraussetzungen muss ich 450 Therapiestunden mit Klienten nachweisen, um in Großbritannien ein registrierter Psychotherapeut werden zu können. Ohne es vorher zu ahnen, kam ich dadurch in Kontakt mit Themen, die ich vorher nicht gewohnt war. Und zwar Probleme, die meine Kunden an mich herantrugen. Sie waren von ganz anderem Kaliber, als die meiner bisherigen Coaching-Kunden.
Es war richtig schwer. Ich versuchte mein Bestes, aber viele meiner Therapiekunden kamen lediglich für einige Sessions und stoppten dann plötzlich. Es war deprimierend. Ich konnte nur schwer damit umgehen und fing an, meine Fähigkeiten nicht nur als Life- oder Management-Coach, sondern auch als Psychotherapeut in Frage zu stellen.
Als ich dieses Thema mit meinem Coach und Supervisor Steve durchsprach, lehnte der sich zurück, sah mich an und fragte mich, ob ich die Geschichte von Wind und Sonne kennen würde. Ich antwortete: Nein! Also fing Steve an zu erzählen.
„Vor langer Zeit beobachteten Sonne und Wind gemeinsam einen Mann, der auf einer Bank saß. Es war ziemlich kalt und so trug der Mann einen Schal und einen Mantel.
Aus heiterem Himmel schlug der Wind der Sonne einen kleinen Wettkampf vor: Wer den Mann am schnellsten dazu bringen würde, Schal und Mantel abzulegen, würde die Wette gewinnen.
Die Sonne nahm an, bat den Wind aber, sein Glück zuerst zu versuchen.
Dieser begann sich mächtig ins Zeug zu legen. Er blies nach Leibeskräften, immer stärker wurden die Anstrengungen des Windes. Der Mann kämpfte ebenfalls, um nicht von der Bank geweht zu werden, und je heftiger der Sturm wurde, desto fester zog er Schal und Mantel zusammen. Schließlich holte der Wind zum finalen Stoß aus. Doch anstatt dem Mann die Kleidung vom Leib zu blasen, zog dieser sich immer tiefer hinter den Schal und in seinen Mantel zurück. Der Wind hatte versagt.
Jetzt war die Sonne an der Reihe.
Sie begann zu lächeln und schien einfach und mühelos auf den Mann herab, ohne auch nur einen winzigen Bruchteil der Anstrengung zu leisten, die der Wind aufgebracht hatte. In den warmen Sonnenstrahlen begann sich der Mann wohlzufühlen. Er richtete sich auf, streckte vor Freude die Beine aus, und als die Sonne noch ein wenig wärmer schien, legte der Mann den Schal ab und zog den Mantel aus. Die Sonne hatte gewonnen.“
Mir war klar, worauf Steve mit seiner Geschichte hinauswollte. Ich fragte dennoch und bekam folgende Antwort: „Nun, vielleicht bemühst du dich ja zu sehr, um deine Kunden zu beeindrucken, indem du versuchst, Lösungen für ihre Probleme zu finden. Vielleicht solltest du dir mehr ein Beispiel an der Sonne, als am Wind nehmen.“
Ich sprang sofort auf den Gedanken an, ihn aber umzusetzen, war leichter gewollt, als getan.
Doch wenig später in einer Nachbesprechung zu meiner Supervisionssitzung, erinnerte ich mich an ein kurzes Video, welches wir während unseres Studiums angesehen hatten. In dem kurzen 2,5-minütigen Clip ging es um Empathie.
Basierend auf einem Vortrag von Brené Brown, einer amerikanischen Professorin und Autorin, die für ihre Forschungen zu Verwundbarkeit, Scham und Führung bekannt ist, hat mir dieses Video im Nachgang zu Steve‘s Geschichte die Augen geöffnet.
Plötzlich war mir klar, was ich tun musste, um bei meinen Kunden mehr wie „die Sonne“ zu sein und sie so zu ermutigen, länger und verbindlicher in meinen Sessions dabeizubleiben.
Brené Brown spricht über vier Schlüsselqualitäten von Empathie:
- In einer schwierigen Situation die Perspektive desanderen einnehmen zu können.
- Sich aus Urteilen herauszuhalten.
- Die Emotionen in der anderen Person erkennen.
- Diese beobachteten Emotionen der anderen Person mitzuteilen.
„Empathie bedeutet, mit Menschen zu fühlen“, sagt Brené Brown. Es erfordert, dass „wir uns mit etwas in uns verbinden, was dieses Gefühl kennt“. Das macht es so herausfordernd! Es kann hart sein, sich mit einem schmerzhaften und vielleicht dunklen Ort in unserem Selbst zu verbinden. Das ist einer Gründe warum wir gewöhnlich versuchen, anderen Ratschläge zu erteilen, wie sie „die Dinge besser machen können“.
Der Kontakt mit unserem eigenen Schmerz, verbunden mit der schwierigen Situation der anderen Person, kann Beklemmung und Unbehagen verursachen. Doch wenn jemand etwas wirklich Schwieriges und Herausforderndes mit uns teilt, sucht die Person wahrscheinlich nicht sofort nach Vorschlägen, wie die Situation gelöst werden kann, sondern sie hofft auf eine empathische Reaktion, um sich nicht allein zu fühlen.
Brené Brown schlägt in diesem Zusammenhang vor, in solche Situationen eine Antwort von folgender Art zu geben: „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich jetzt sagen soll. Aber ich bin so froh, dass du es mir gesagt hast!“ Sie glaubt, dass eine Antwort selten etwas besser machen kann. „Aber was etwas besser macht, ist Verbindung!“
Ich schaue mir das Video mindestens einmal pro Woche an, und obwohl es nicht einfach ist, „wie die Sonne zu sein“, habe ich das Gefühl, dass ich jetzt eindeutig besser mit den Schmerzen und Beschwerden meiner Kunden umgehen kann. Im Gegenzug bleiben viele von ihnen mittlerweile bei mir.
Meine Herausforderung an dich heute ist deshalb sehr einfach: Wenn jemand etwas Schwieriges mit dir teilt, versuche nicht sofort, die vermeintlichen Probleme der Person zu lösen. Erinnere dich an die Sonne. Sei einfach nur spürbar anwesend. Sei einfach da, mitfühlsam, verbunden. Kurzum: sei die Sonne und wärme!
– Jörg
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