Es war das mit Spannung erwartete Halbfinale der Europameisterschaft 2020 zwischen England und Dänemark. 60.000 hauptsächlich englische Fans hofften, dass ihr Team Geschichte schreiben könnte, denn es war das erste Mal seit 55 langen Jahren, dass die „Three Lions“ das Finale eines großen Turniers erreichen konnten. Im Endspiel einer Europameisterschaft hatte das Mutterland des Fußballs noch nie gestanden.
Das englische Team hatte im Turnier noch kein einziges Gegentor hinnehmen müssen, bis der Däne Mikkel Damsgaard sich den Ball 25 Meter vor dem englischen Tor zum Freistoß hinlegte und ihn wenig später ins Netz knallte. England – Dänemark 0:1.
Totenstille im Stadion. Ich selbst kann es bezeugen, denn ich war dabei. Ich sah, wie dieser Freistoß die englischen Herzen ins Zentrum traf und die Menge in Schockstarre verfiel. Ein Trauma schien wiederzuerwachen. Erinnerungen an die vielen gescheiterten Versuche der vergangenen sechs Fußball-Jahrzehnte wurden wach. Und jeder schien sich zu fragen: Wird dies eine Fortsetzung unserer Tragödie und eine weitere Niederlage in der langen Chronik unserer Misserfolge sein?
Die Anspannung und die Furcht vor dem Scheitern schien jedem einzelnen im legendären Wembley-Stadion den Rücken hochzukriechen. Auf diesem Höhepunkt der anwachsenden Verzweiflung sah ich den englischen Trainer Gareth Southgate gestikulierend an der Seitenlinie stehen. Er forderte seine Spieler auf, Ruhe zu bewahren und konzentriert zu bleiben.
In der anschließenden Pressekonferenz erklärte er, er habe mit seinen Spielern vor der Partie über die Möglichkeit gesprochen, in einen Rückstand zu geraten und erzählte, dass mehrere Spieler von diesem Gedanken „entsetzt gewesen seien“. Aber Southgate hatte sein Team gut vorbereitet und wie immer einen Plan. Dieser sah vor, den Fokus seiner Spieler nicht auf das Desaster eines möglichen Scheiterns auszurichten, sondern auf die Ausführung des Matchplans.
Und tatsächlich: Nur neun Minuten später gelang den Engländern der Ausgleich mit einem hervorragend ausgespielten Angriff. In der Verlängerung ging England sogar in Führung. Der Schlusspfiff versetzte die englische Mannschaft in das 60 Jahre lang herbeigesehnte Endspiel und eine ganze Nation in das während der EM so oft besungene „Wonderland“.
Warum erzähle ich diese den meisten bekannte Geschichte?
Weil ich glaube, dass es eine wichtige Erkenntnis aus der Reaktion des englischen Trainers und seiner Mannschaft auf den gefürchteten Rückstand gibt: die Bedeutung von Belastbarkeit, heute auch gern mit dem Begriff Resilienz bezeichnet.
Das Wort Resilienz lässt sich erstaunlicherweise bis ins Jahr 1620 zurückverfolgen. Es leitet sich vom lateinischen Wort „resiliens“ ab und bezeichnet „den Akt des Abprallens“, „Zurückkommen“ oder auch „Zurückspringen“ nach einer vorhergehenden „Verformung“.
In seinem Buch „Alles ist möglich“ beschreibt Southgate Resilienz als etwas, was nur sehr schwer zu erlernen ist. Trotzdem zeigt er praktische Wege der Aneignung. Im Zentrum steht dabei der Gedanke, dass herausfordernde Lebenssituationen erlebt und durchgearbeitet werden müssen. In einem wunderbaren Artikel dazu beschrieb die BBC, wie sich jeder einzelne der englischen Spieler von einem sehr dunklen Punkt in seinem Leben oder seiner Karriere wieder aufgerappelt hatte.
Southgate selbst scheint dabei DER Resilienz-Experte zu sein. Er wurde im Alter von nur 13 Jahren beim FC Southampton als nicht gut genug empfunden und aussortiert. Auch später, bei Crystal Palace, wurde er vorrübergehend aus der Jugendmannschaft gestrichen und von seinem Trainer Allan Smith mit den Worten verabschiedet, er solle es doch lieber in einem „Reisebüro probieren“. Doch Southgate blieb ruhig und konzentrierte sich auf seinen Traum, eines Tages für England zu spielen.
Seine „resiliente“ Einstellung ermöglichte es ihm, dieses Ziel im Alter von 25 Jahren tatsächlich zu erreichen. Diese Fähigkeit half ihm später auch andere dunkle Momente zu überstehen. Bei der EM 1996 zum Beispiel verschoss er den entscheidenden Elfmeter gegen Deutschland, 2009 wurde er auf dramatische Weise als Trainer des FC Middlesbrough entlassen. Und natürlich ist da dieses herzzerreißende Elfmeter-Desaster nach dem Dänemark-Sieg im Finale gegen Italien, welches er durch die Auswahl seiner Schützen maßgeblich beeinflusst hat. Es wird seine Belastbarkeit auf eine weitere, sehr harte Probe stellen.
Alle diese Tiefpunkte zu durchschreiten und sie als wertvolle Gelegenheiten des Lernens zu behandeln, half Gareth Southgate, sich während seiner wechselvollen Karriere immer wieder zu berappeln. Es machte ihn zu einem bescheidenen und authentischen Leader, der die englische Nation nun bereits seit einigen Jahren durch seine Art begeistert und inspiriert.
Mein Wunsch an Euch besteht heute darin, mit Hilfe des Vorbilds von Gareth Southgate Schritt für Schritt „Resilienz“ zu erlernen und widerstandsfähiger zu werden. Seid ruhig und entschlossen, wenn das Leben Euch um die Ohren zu fliegen droht und mit Herausforderungen überschüttet. Auch wenn sich das oftmals unerträglich anfühlt … umarmt es.
Wenn ihr dann trotzdem kurz davor seid, aufzugeben: Bleibt ruhig und konzentriert Euch auf den ursprünglichen „Matchplan“ und damit auf das Ziel!
Um genau das zu tun, können Euch einige der Tipps helfen, die Gareth Southgate in seinem Buch gibt. Folgende Fragen kann sich jeder nach einem harten Niederschlag stellen:
- Welche ähnlich schwierigen Lebenssituationen habe ich bisher erlebt und gemeistert?
- Mit welchem meiner Freunde, Coaches, Mentoren kann ich jetzt sprechen (geteiltes Leid = halbes Leid)?
- Was ist das jeweils Beste oder Schlimmste, was mir passieren kann und wie wird mir das helfen den „Gedanken-Katastrophen-Zyklus“ zu durchbrechen?
- Ist meine Reaktion auf diese Situation angemessen? Wenn nein, welcher Ansatz wäre geeigneter?
- Welche wertvolle Lektion fürs Leben lerne ich hier und welche Fähigkeiten kann ich aufbauen?
- Welchen ersten kleinen Schritt kann ich schon jetzt und heute tun, um für die Zukunft wieder erfolgreich und glücklich zu sein?
Zögert nicht, diese Möglichkeiten wahrzunehmen, um resilient zu werden Gebt nicht auf und wendet einige von Gareths Resilienz-Tricks an. Sie haben ihm geholfen, England immerhin in das erste EM-Finale seiner Geschichte zu führen. Auch Euch werden sie helfen, im Falle einer Katastrophe ruhig zu bleiben und Euch auf eure ursprünglichen Ziele zu konzentrieren. Das ist es, was Euch in die Lage versetzt … auch wenn ihr am Boden zu liegen scheint … den Ausgleich zu schießen und das Spiel spätestens in der Verlängerung für Euch zu entscheiden.
– Euer Jörg
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