Mein absoluter Favorit unter den buddhistischen Mönchen (und gleichzeitig auch Lieblingskomiker) Ajahn Brahm erzählte einmal die Geschichte von einem seiner „Kollegen“, der den Bau einer neuen Halle in seinem Kloster in Südthailand beaufsichtigte. Die Arbeiten seien bis Anfang Juni gut vorangekommen, berichtete er, was auch wichtig war, denn dann beginnt die Regenzeit, in der die Mönche aufhören ihre „weltlichen“ Arbeiten zu verrichten, um mehr Zeit mit Meditationen und kontemplativem Lernen zu verbringen.
Als nun die täglichen Monsunregen einsetzten, befahl der Abt, die Tätigkeiten auf der Baustelle einzustellen und schickte alle Arbeiter nach Hause.
Das Kloster blieb allerdings weiter für Besucher geöffnet. So kam es, dass einige von ihnen sowohl das unvollendete Gebäude als auch die ruhig in innerer Einkehr versunkenen Mönche sahen. Und so fragte einer der Besucher den Abt, wann denn der Bau der neuen Halle abgeschlossen sein würde. Der Abt antwortete: „Die Halle ist fertig!“
Den Besucher verwirrte diese Antwort, deshalb setzte er nach: „Aber ich kann das Dach nicht sehen. Es gibt auch keine Fenster, mit dem Boden wurde gerade erst begonnen und überall stehen noch Zementsäcke herum. Meiner Meinung nach ist hier gar nichts fertig.“ Der Abt antwortete wieder: „Die Halle ist fertig“. Erklärte dieses Mal aber: „Was getan wurde, ist erledigt!“
Mit anderen Worten, was bisher erreicht wurde, gilt als beendet. Die Botschaft des Abts lautete deshalb: „Seid nicht ständig besessen von dem Gedanken, was bisher alles noch nicht fertig gestellt ist, denn das ist ein garantiertes Rezept für Unzufriedenheit.“
Mich erinnerte Brahms Geschichte sofort an das deutsche Konzept des „Feierabends“. Dieses setzt sich ja, wie man leicht sehen kann, aus den Worten „Feier“ und „Abend“ zusammen, hat allerdings kaum etwas mit dem englischen Begriff „Happy Hour“ zu tun.
Beim Feierabend geht es nicht darum, auszugehen und ein paar Drinks zu kippen. Denn in der ursprünglichen Bedeutung war nicht das „Feiern“ in seiner heutigen Bedeutung gemeint, sondern etwas ganz anderes. Es ging darum, zwei Zeiträume voneinander sauber zu trennen. Wenn nämlich die Arbeit (also das jeweilige Tagwerk) endet, sollte die Phase der Entspannung, der Ruhe, der Erneuerung und damit auch die der Zufriedenheit über das bereits Geschaffte beginnen.
Wir Deutschen gelten in unserem Stereotyp weltweit als fleißige und effiziente Arbeiter. Umso überraschender scheint es deshalb, warum ausgerechnet wir mit dem „Feierabend“ einen eigenen Begriff geschaffen haben, der in seiner Bedeutung und Wahrnehmung weit über die simple Kombination der beiden Worte hinausgeht. Eigentlich zeigt sich hiermit vor allem eines: Dass Arbeit und Freizeit „Geschwister“ sind und zusammengehören.
Denn nur, wenn wir die Zeit nach der Arbeit, also den Feierabend effektiv nutzen, können wir uns vom Alltagsstress erholen und uns dem nächsten Arbeitstag mit frischen Kräften und damit neuen Perspektiven nähern.
In den zurückliegenden Monaten der Corona-Pandemie ist das Konzept des Feierabends allerdings mächtig ins Wanken geraten. Denn die Arbeit im Home Office hat die Grenze zwischen Arbeit und Feierabend verschwimmen lassen. Das geht schon damit los, dass Arbeitsplatz und Zuhause eins geworden sind. Der Esstisch wurde zum Schreibtisch, das Sofa zur „Werkbank“.
Auch in der Beobachtung meiner eigenen Arbeitsgewohnheiten musste ich feststellen, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit sich Tag für Tag mehr auflösten und letztlich ganz verschwunden schienen.
Da ich nach meiner Arbeitszeit keinen klaren Weg mehr nach Hause habe, schleiche ich mich nach dem Feierabend in mein „Büro“, um nach neuen E-Mails oder Nachrichten eines eh schon langen Arbeitstages zu suchen. Dabei hilft es natürlich überhaupt nicht, dass mein Büro mittlerweile Teil des Wohnzimmers und rund um die Uhr verfügbar ist.
Wenig überraschend sind für mich deshalb Studien, die zeigen, dass wir während der Pandemie nicht weniger, sondern mehr arbeiten. So hat sich in den vergangenen zwölf Monaten die durchschnittliche Arbeitszeit in den USA und England von vormals acht bis neun Stunden pro Tag auf elf erhöht. In der Folge wurde ein deutlich höheres Maß an Stress, Angstzuständen sowie Burnout und Depressionen festgestellt. Man braucht kein Wissenschaftler zu sein, um zu erahnen, wie es trotz der gestiegenen Arbeitsstunden um deren Produktivität bestellt ist.
Deshalb: Wenn die Arbeit getan ist, betrachte sie als erledigt … und zwar wirklich erledigt … vollständig erledigt … bis es Zeit ist, von vorne zu beginnen. Um das zu schaffen, ist eine klare Absicht dringend erforderlich. Schön illustriert ist das in der kreativen Methode eines Mannes der, wenn er sein Büro verlässt, seinem Schreibtisch stets wie einem Hund zuruft: „Bleib!!!“ Er schließt die Tür – und ist weg. Und zwar ohne, dass ihm die Arbeit in den Feierabend folgt.
Genau das ist diesmal meine Herausforderung für Sie: Legen Sie am Morgen eine bestimmte Zeit fest, bis zu der Sie Ihre Arbeit für diesen Tag beenden wollen. Nennen Sie diese Tageszeit „Feierabend“ und tragen Sie sie unverrückbar in Ihren Kalender ein. Wenn Sie sich dem Ende Ihres Arbeitstages nähern, erfassen Sie, was morgen noch zu tun ist, und setzen es auf Ihre To-Do-Liste. Fahren Sie dann Ihren Computer herunter, schalten Sie die arbeitsbezogene Kommunikation aus und sagen Sie zu sich: „Was getan wurde, ist erledigt!”
Wenn Sie diesen sauberen Schnitt gemacht haben, tun Sie etwas, das Sie erfreut und Ihren Akku wieder auflädt, um den wohlverdienten Abend zu feiern. Genießen Sie diese kostbare Auszeit mit Aktivitäten, die ganz Ihnen gehören. Und überprüfen Sie dann, ob Sie nicht selbst davon überrascht sind, wie viel produktiver der nächste Arbeitstag wird.
– Euer Jörg
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