Es war kurz nachdem ich meinen letzten Newsletter zum Buch „Hör auf zu glauben, was du denkst – Der einfache Weg für Ruhe im Kopf“ verschickt hatte, dass ich eine wunderbare Antwort von meinem Freund Mattias Hulting bekam.
Mattias und ich haben vor vielen Jahren zusammen an einem ziemlich harten und komplexen ERP- und HR-Projekt gearbeitet, bei dem es darum ging, das ehemalige Wella-Geschäft in die Strukturen von P&G in Asien zu integrieren. Eine echte Achterbahnfahrt – mit vielen Hochs und Tiefs. Was ich an Mattias immer bewundert habe: Seine Fähigkeit, die Dinge leicht zu nehmen und gleichzeitig unglaublich klar und durchdacht zu sein.
Die Nachricht, die er mir schickte, enthielt einen so schönen Gedanken zum Thema “Grübeln in den frühen Morgenstunden”, dass ich sie hier einfach ungekürzt weitergeben möchte:
Hi Joerg,
Hast du schon einmal von der wissenschaftlich belegten Funktionsweise unseres Gehirns in der Nacht gehört, die für viele Ängste und Sorgen verantwortlich ist?
Hemingway schrieb in diesem Zusammenhang in einem meiner Lieblingsromane, Fiesta: „Tagsüber ist es leicht, stark zu sein – aber nachts ist das eine ganz andere Geschichte.“ Er sagte das über das Wachliegen in der Nacht, wenn man sich auf einmal Sorgen über Dinge macht, die einem am Tag total egal waren.
Was Hemingway nicht wusste: Es gibt dafür einen wissenschaftlichen Grund.
Die Amygdala – das Bedrohungs-Früherkennungssystem in unserem Gehirn – ist nachts besonders aktiv. Sie grübelt, wittert Gefahr, will Probleme lösen. Nur: Sie kann keine Lösungen finden. Dafür ist der präfrontale Kortex zuständig. Der braucht aber guten Schlaf, um überhaupt aktiv zu werden.
Und weil er zu den “jüngeren” und komplexeren Teilen unseres Gehirns gehört, wacht er morgens auch am langsamsten auf. Deshalb sagen viele Leute: “Ich kann noch nicht denken, ich hatte noch keinen Kaffee.” Stimmt irgendwie.
Wenn also am Morgen die überforderte Amygdala und der entspannte, reflektierte präfrontale Kortex endlich ihr Meeting haben, denkt man oft: “Warum habe ich mir mitten in der Nacht eigentlich so einen Kopf gemacht? War gar nicht so schlimm. Und selbst wenn, ich wüsste ja eigentlich, wie ich damit umgehen könnte.”
Also, das nächste Mal, wenn du nachts um 4 Uhr im Bett liegst, schweißig, grübelnd über etwas, das dich um 15 Uhr nicht die Bohne interessiert hat, denk einfach: “Meine Amygdala überdreht gerade wieder. Ich bespreche das mit Herrn Kortex bei einem Kaffee am Morgen.”
Wenn man weiß, dass das Ganze ein biochemisches Zusammenspiel ist – hilft das, wieder zur Ruhe zu kommen.
Liebe Grüße vom Mount Fuji!
Mattias
Ich dachte: Wow. Was für ein schöner Gedanke. Und wie perfekt passt er zu dem letzten Newsletter über unseren Negativitätsbias und den Unterschied zwischen Gedanken (diese spontanen Impulse und Einsichten) und Denken (das bewusste Verarbeiten, das sich schnell in Über-Grübeln verwandeln kann).
Mattias’ Nachricht ist gerade jetzt sehr passend, in einer Zeit, in der vieles ungewiss scheint. Viele von uns wachen in den frühen Morgenstunden auf. Und sobald man wach ist, beginnt der Verstand zu kreisen – und zurück in den Schlaf zu finden, scheint unmöglich.
Sich in solchen Momenten bewusst zu machen, dass da vielleicht gerade die Amygdala auf Autopilot läuft – und dass wir die Dinge im wachen Zustand viel besser regeln können – kann helfen, aus der Spirale auszusteigen.
Denn: Aufzuwachen in den frühen Morgenstunden ist nicht per se ein Problem. Unser Körper ist nicht kaputt. Er macht, was er soll. Gegen Morgen sinkt unsere Körpertemperatur, Melatonin wird abgebaut, Cortisol steigt – ein Teil unseres natürlichen Rhythmus, der uns sanft in den Tag schiebt.
Die Frage ist nur: Was machen wir mit diesen Minuten, die sich wie Stunden anfühlen?
Hier ein paar Ideen, die helfen können:
- Nicht auf die Uhr schauen
- Handy im Flugmodus lassen
- 4-7-8 Atemtechnik ausprobieren (Video)
- “Worry audit”: Gedanken aufschreiben und fragen: Ist das ein echtes Problem oder nur eine Geschichte, die ich mir erzähle?
- Drei Dinge notieren, für die du dankbar bist
- Eine Liste mit angenehmen Dingen schreiben
- Einfach ruhen, auch wenn du nicht schläfst hilft das dem Nervensystem
- Musik oder verlangsamte Podcasts hören (mein Favorit)
- Sanftes Dehnen oder Malen/Kritzeln
- Eine Visualisierung oder ein einfaches Gedicht/Mantra wiederholen
- Military Sleep Methode ausprobieren (Video)
- Wenn du nach 20 Minuten hellwach bist: Aufstehen und etwas Ruhiges tun (Lesen, Puzzle, warme Dusche, …)
Also, wenn du nachts wach wirst, erinnere dich an Mattias’ Worte:
“Das ist nur meine Amygdala. Herr Kortex wird sich am Morgen gut darum kümmern.”
Dann lenke deine Aufmerksamkeit sanft auf eine der kleinen Übungen oben.
Du musst nicht um 4:23 Uhr die Welt retten. Du darfst einfach nur sanft durch die Nacht kommen.
Viele Grüße
Joerg
P.S.: Falls du eine Geheimtechnik hast, wie du wieder einschläfst würde ich mich freuen von dir zu hören!
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