Es ist ziemlich genau zehn Jahre her, dass die Engländerin Margaret McCollum am 1. November 2012 mit der Londoner U-Bahn nach Hause fuhr. Wie üblich stieg sie an der Haltestelle „Embankment“, im Zentrum direkt an der Themse gelegen, aus. Und wie jeden Tag hielt sie kurz inne, lauschte und schien auf etwas ganz Bestimmtes zu warten. Doch dieses Mal blieb dieses Bestimmte aus. Margaret McCollum war schockiert und beschrieb jenen Moment später als „schrecklich und absolut verheerend“.
Was war so schlimm gewesen?
Wer einmal in London mit der berühmten „tube“, der Londoner U-Bahn, gefahren ist, kennt die Bahnsteig-Ansage „Mind the Gap“, mit der die Passagiere gewarnt werden, auf den „Abstand“ zwischen Bahnsteigkante und U-Bahn-Einstieg zu achten. Auch an jenem 1. November erklang die Warnung. Aber nicht mit derselben Stimme.
Für Millionen Londoner war das mit Sicherheit keine große Sache, wenn sie es überhaupt bemerkten. Ganz anders fühlte sich das allerdings für Margaret McCollum an. Denn die alte, ihr so vertraute Stimme, war die ihres verstorbenen Ehemannes Oswald Laurence gewesen, eines Schauspielers, der das „Mind The Gap“ vor 50 Jahren mit seiner ikonischen Stimme aufgenommen hatte.
Voller Verzweiflung legte ich meinen Aufsatz wütend beiseite. Ganze sechs Monate ließ ich ihn auf meiner To-do-Liste vor sich hinfaulen. Erst Anfang September fand ich endlich den Mut, dem verdammten Ding den nächsten Besuch abzustatten.
Oswald war 2007 verstorben und seine U-Bahn-Ansage das Einzige, was seiner Ehefrau von ihm geblieben war. Die Verbindung war schwach, doch Margaret hielt entschlossen an ihr fest.
Jeden Tag plante sie ihren Arbeitsweg so, dass sie seine Stimme auf der Northbound-Linie hören konnte. „Zu wissen, dass ich auf meinem Nachhauseweg einfach an der Station „Embankment“ halten und seine Stimme vernehmen konnte, war wirklich etwas ganz Besonderes!“ So besonders, dass sie in den fünf Jahren seit seinem Tod jeden Tag wenigstens einmal an dieser U-Bahn-Station gewesen war.
All das fand mit dem 1. November 2012 sein vorläufiges Ende. „Ich war einfach fassungslos, dass Oswalds Stimme nicht mehr da war.“ In ihrer Not erkundigte sich Margaret McCollum beim Transport for London (TFL) und ihr wurde zunächst mitgeteilt, dass es ein neues digitales Ansage-System gäbe und sie, die TFL, Oswalds Stimme nicht darauf übertragen könnte.
Margaret war in Tränen ausgelöst und kurz davor, das unvermeidlich Scheinende zu akzeptieren. Doch in einem letzten Versuch, das was ihr so lieb und teuer war für sich zu retten, ging sie noch einmal zum Personal der Station „Embankment“. Und tatsächlich: Es geschah ein kleines Wunder!
Der Direktor der London Underground, Nigel Holness, beschrieb das so: „Transport for London wurde von der Witwe von Oswald Laurence kontaktiert, um zu sehen, ob sie eine Kopie der ikonischen „Mind the Gap“-Ankündigung bekommen könnte, die ihr Mann vor über 50 Jahren aufgenommen hatte. Wir waren alle sehr berührt von ihrer Geschichte, also haben die Mitarbeiter die Aufnahme aufgespürt. Und dann haben wir ihr nicht nur eine Kopie der Ankündigung auf CD besorgt, sondern wir haben die „Mind The Gap“-Durchsage, mit Oswalds Laurence`Stimme auch in der Station „Embankment“ wiederhergestellt.”
Wenn Ihr also heute, 10 Jahre später, zur „Embankment“ Station in London hinuntergeht und auf dem Bahnsteig in Richtung Norden der Northern Line steht, werdet Ihr eine völlig andere Stimme hören als an jeder anderen U-Bahn-Station in London. Das „Mind The Gap!“ spricht hier immer noch der längst verstorbene Oswald Laurence und ich muss sagen, das ist tatsächlich ziemlich beeindruckend. Überzeugt Euch selbst: https://youtube.com/shorts/ZvbXM63Pi54?feature=share
Warum erzähle ich diese Geschichte?
Es geht mir um „KINDNESS“ oder auf Deutsch FREUNDLICHKEIT, GÜTE und LIEBENSWÜRDIGKEIT.
Angesichts eines in der Ukraine tobenden Krieges, großer Unsicherheit aufgrund steigender Lebenshaltungskosten, einer drohenden Rezession und eines bevorstehenden harten Winters glaube ich, dass wir alle ein wenig Freundlichkeit gebrauchen können. Die gleiche Art von Freundlichkeit und Mitgefühl, die das Team von TFL zeigte, als es Margaret McCollum einen Herzenswunsch erfüllte und damit einer einfachen Bewohnerin von London auf berührende Weise half.
Wahrscheinlich war es nicht so einfach, interne Genehmigungen einzuholen und sicherzustellen, dass die technische Umcodierung digitalisiert und wieder online gestellt wurde. Aber es hat sich gelohnt. Die Wiederherstellung von Oswalds Laurence‘ Durchsage erwärmte nicht nur Margaret‘s Herz, sondern auch das von Millionen von Londonern, als die Geschichte durch die Medien ging.
Oswalds Stimme fordert auf zum „Mind the Gap“. Für mich ist die Aktion der TFL ein Überwinden des Abstandes („Gap“). Der Kluft zwischen uns Menschen, während wir mit unseren täglichen Katastrophen und Nöten kämpfen. Durch ihre Freundlichkeit hat die TFL dazu beigetragen, viele Menschen mit dieser herzerwärmenden Geschichte zu verbinden.
Meine Herausforderung für Euch heute ist deshalb einfach. Zeigt jemandem ein wenig Freundlichkeit, Mitgefühl und Güte. Es könnte ein Fremder sein oder jemand, den ihr sehr gut kennt, oder sogar jemand, mit dem ihr schon lange keinen Kontakt mehr hattet. Meldet euch, sagt „Hallo“ oder tut einfach mal wieder eine kleine gute Tat für jemand anderen. Und wenn ihr es tut, lächelt dabei und spürt, wie auch euer Herz lächelt und ein anderes sich erwärmt.
Auch wenn der bevorstehende Winter bitterkalt sein wird, könnten es diese kleinen Gesten der Freundlichkeit sein, die uns warmhalten und uns die wahre Bedeutung dessen vermitteln, warum wir hier sind. Kümmere dich also nicht um die Lücke. Überbrücke sie.
Wer weiß, vielleicht kannst Du damit einen so großen Unterschied machen, wie es Oswald‘s Stimme immer noch für Margaret an der Londoner „Embankment“ Station tut!
– Euer Jörg
Leave a Reply