Vor kurzem bin ich auf die wunderbare Geschichte einer alten Frau gestoßen, die allein in ihrem Haus lebte. Jeden Morgen ging sie zum Fluss, um dort frisches Wasser zu holen. Dafür nahm sie immer eine lange Stange, hängte links wie rechts je einen Eimer und verwendete dabei immer den gleichen. Der Weg von ihrem Haus auf einem Feldweg entlang war nicht sehr lang. Am Fluss angekommen, nahm sie die Eimer herunter und füllte diese mit frischem Wasser. Dann hängte sie jeden Eimer genauso vorsichtig wieder auf die Stange, hob diese auf ihre Schultern und machte sich auf den Rückweg.
Während der rechte Eimer ohne Schaden war, hatte der linke einen kleinen Riss im Boden, aus dem das Wasser langsam aber stetig herauströpfelte. Immer wenn sie nach Hause kam, war der rechte Eimer randvoll, während der linke die Hälfte des Wassers verloren hatte.
So ging das über Jahre und nichts änderte sich. Bis eines Tages, als sie am Fluss ankam, der linke Eimer zu seufzen begann. Die alte Frau erschrak fürchterlich, denn noch nie hatte sie einen Gegenstand reden hören. Doch so war es, der Eimer sprach zu ihr. „Es tut mir so leid, es tut mir so leid“, jammerte er. „Du alte Frau arbeitest jeden Tag so hart, um das Wasser nach Hause zu tragen und ich verliere dabei stets die Hälfte. Ein Eimer hat doch nur eine Aufgabe – und noch nicht mal die kann ich richtig erfüllen.“
Die Frau schaute ihn mit offenem Mund an und wollte etwas erwidern, aber der Eimer lamentierte weiter: „Nein, nein. Ich weiß, es ist wenigstens die Hälfte des Wassers, aber das macht es nicht besser. Ich habe diesen Riss, diesen Defekt und deshalb bin ich ein Versager.“
Die alte Frau schaute auf den Eimer, der ihr über all die Jahre ein treuer Begleiter gewesen war, und begann mit einem mitfühlenden Blick zu sprechen. „Mein guter Freund. Es tut mir so leid. Ich hatte keine Ahnung, dass du so empfindest. Du hast die ganze Zeit gelitten und hattest dabei doch gar keinen Grund.“
„Ich weiß nicht wovon du sprichst“ erwiderte der Eimer, „ich hatte keinen Grund an meinem Defekt zu leiden?“
„Nein“ sagte die Frau „und ich werde dir jetzt auch zeigen, warum“. Vorsichtig hob sie die Stange mit den gefüllten Eimern auf und begann nun auf dem Heimweg zunächst mit dem rechten Eimer zu sprechen: „Was siehst du?“ fragte sie. „Ich sehe Erde und Staub, denn ich sehe den Feldweg wie jeden Tag“, sagte der rechte Eimer.
„Das stimmt“, sagte die Frau. „Und was siehst du?“ wandte sie sich an den linken Eimer mit dem Riss. Der schaute sich zum ersten Mal um und war erstaunt. Entlang des Feldweges standen Blumen, die wunderschön und in allen erdenklichen Farben blühten. Während die rechte Seite des Weges kahl war, zeigte sich seine linke in malerischer Pracht.
Wie aber kam es dazu? Ganz einfach: Durch den Riss im linken Eimer war über all die Jahre täglich so viel Wasser getropft, dass die Blumen auf seiner Seite prächtig gedeihen konnten.
„Ich habe diese Blumen gepflanzt“, erklärte die Frau ihren beiden so unterschiedlichen Eimern. „Sie sind hübsch, aber sie brauchen viel Pflege. Und sie brauchen vor allem tägliches Gießen.“ Dann wandte sie sich an den linken Eimer. „Als ich dich zum ersten Mal sah“, sprach sie zu ihm, „wusste ich, dass ich genau das gefunden hatte, was ich brauchte. Jeden Morgen fülle ich dich mit Wasser. Und jeden Morgen, wenn ich diesen Hügel hinaufging, gabst du sorgfältig Tropfen für Tropfen genau die richtige Menge Wasser ab, damit die Blumen so schön gedeihen konnten. Dieser Weg ist deshalb ein wunderbarer Ort geworden, und das verdankt er vor allem dir. Deshalb tut es mir leid, dass du all die Jahre dachtest, du wärest ein Versager. Du bist kein Versager und du hast auch keinen Defekt. Im Gegenteil, du bist perfekt.“
Der Eimer lächelte verlegen. Also setzte die alte Frau noch einmal nach: „Der Riss, von dem du dachtest, er mache dich zu einem Versager“, sagte sie, „war genau das, was ich brauchte, um unsere Welt zu einem schöneren Ort zu machen. Dafür möchte ich dir noch einmal `Danke` sagen!“
Was erzählt uns diese wunderschöne Geschichte über uns? Nun, wie der alte Eimer haben wir alle unsere Risse, unsere angeblichen Defekte, Schwächen und Unzulänglichkeiten, die uns manchmal denken lassen, wir seien Versager. Aber was wäre, wenn das gar nicht stimmt? Was wäre, wenn uns gerade diese vermeintlichen Mängel vollständig und perfekt, also „ganz“ machen – und deshalb gar keine Korrektur oder Reparatur bedürften?
Ich möchte Sie heute ermutigen, einen Moment innezuhalten und die Augen zu öffnen für die Blumen, die Sie auf Ihrem Weg wachsen lassen. Suchen Sie selbst nach den ganz kleinen Blüten, mit denen Sie Ihre Welt zu einem besseren Ort machen. Wenn Sie bereit sind, Ihren Wert zu entdecken und in seinem Umfang wirklich voll und ganz anzuerkennen, kann sich Ihnen ein neues Universum öffnen.
Perfektion ist zugegeben ein schönes Konzept. Aber wer würde sich nicht dafür entscheiden, mit seinen „Unzulänglichkeiten“ einen Weg zum Blühen zu bringen? Oder um es mit den Worten des Songwriters Leonard Cohen zu sagen:
Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in …
oder auf deutsch:
Läute alle Glocken, die noch läuten können
Vergiss dein perfektes Angebot
Es gibt einen Riss, einen Riss in jedem Ding
denn nur so kommt das Licht hinein …
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