„Ihnen bleiben sieben Tage, um Ihr Grundstück zu räumen!“ Das waren die kurzen, aber folgenschweren Worte, die der Richter nach einem dreijährigen Rechtsstreit im Frühjahr 2013 an Moth und Raynor Winn richtete. Das Ehepaar hatte sich von einem engen Freund zu einem Investment überreden lassen. Die Sache ging schief und die Gläubiger beanspruchten nun ihr kleines Bauernhaus in Wales.
Moth und Raynor Winn konnten nicht glauben, was der Richter da gerade von ihnen verlangt hatte. In den zurückliegenden 20 Jahren hatten sie jede freie Minute in den Wiederaufbau der einstigen Ruine gesteckt. Es war der Ort, an dem ihre beiden Kinder aufgewachsen waren und an den sie noch immer in ihren Studienferien zurückkehrten. Freunde und Besucher kamen gern hierher, um ihre Sommerurlaube zu verbringen. Aber letztlich und vor allem anderen war das ihr Zuhause.
Das war nun alles dahin. Und tatsächlich waren Moth und Raynor Winn nur eine Woche nach dem abschließenden Richterspruch obdachlos. Es gibt Zeiten, in denen man denkt, es könnte nicht mehr auswegloser werden. Aber im Falle des Ehepaars Winn ging es doch noch weiter nach unten. Denn während sie schweren Herzens begannen, ihr Haus zu räumen, hatte Moth einen Arzttermin, an dessen Ende eine niederschmetternde Diagnose stand: Er litt an einer seltenen Gehirnkrankheit und die Ärzte gaben ihm lediglich noch zwei bis drei Jahre Lebenszeit.
Diese Geschichte ist wahr und Ausgangslage eines Buches, welches mich tief berührt und lange beschäftigt hat: „Der Salzpfad“.
Der gemeinsame Weg von Moth und Raynor begann schon früh in ihrer Teenagerzeit und war am Anfang alles andere als „salzig“. Ihr Kennenlernen war „ein Märchen und wirklich Liebe auf den ersten Blick“. Sie heirateten, bekamen zwei Kinder und zogen sie groß, während sie auf ihrer Farm ein bescheidenes Leben führten und vor allem damit beschäftigt waren, Haus und Grundstück in etwas Wohnliches zu verwandeln.
Das alles fiel von einem Tag auf den anderen auseinander. Dazu die Perspektive nicht mehr viele Jahre gemeinsam verbringen zu können. Wieviel mehr Schläge kann der Mensch in nur einer Woche verdauen? Die Vorstellung von Moth und Raynors Trostlosigkeit löste in mir ein starkes Gefühl von Demut aus. Ich war auf einmal sehr dankbar für viele positive Dinge in meinem Leben. Trotz der überaus belastenden COVID-Sperre und all ihrer Auswirkungen habe ich jede Nacht ein Dach über dem Kopf. Ich habe genügend Geld für Essen und ich bin mit einem wunderbaren und unterstützenden sozialen Netzwerk aus Familie und Freunden gesegnet. Das alles ist nicht immer selbstverständlich und das Buch erinnerte mich daran.
Moth und Raynors versuchten sich buchstäblich bis zur letzten Sekunde an das Liebgewordene zu klammern. Als der Gerichtsvollzieher an die Tür klopfte, versteckten sich die beiden unter der Treppe in ihrem Haus. Sie wollten einfach nicht gehen. Sie wussten ja auch nicht, wohin sie gehen sollten. In diesem schicksalhaften Augenblick schaute Raynor zufällig auf eine der bereits zusammengestellten Bücherkartons und sah einen Titel herausragen: „Five Hundred Mile Walkies“, geschrieben von einem Mann, der mit seinem Hund den über 1.000 Kilometer langen Südwestküsten-Pfad in England gegangen war.
Das war der zündende Moment. Ein Plan nahm Gestalt an. Nichts brauchten die beiden mehr, als einen Weg: ein Ziel und eine Aufgabe. Und so begann Raynor ihren Mann davon zu überzeugen diese Reise zu unternehmen. Der Pfad würde ihnen etwas zu tun geben. Er würde ihnen einen Grund geben, am nächsten Morgen aufzustehen. Er würde Hoffnung bringen. Moth stimmte zu.
An finanziellen Mitteln blieben ihnen aufgrund von gewährten Steuererleichterungen 48 Pfund in der Woche. Das reichte zum wilden Campen in einem kleinen Zelt mit sehr sparsamer Kost. Vom englischen Regen ständig durchgeweicht gingen und schliefen sie in ihrer nassen Kleidung. Sie litten unter den körperlichen Anstrengungen der harten Fußmärsche. Sie zitterten sich gemeinsam durch kalte Nächte und hatten oft Hunger. Aber durch das Gehen kamen sie wieder auf die Beine, sie fanden Ihre Stimme und ihre Hoffnung wieder und erneuerten ihre enge Verbindung zur Natur, was neue Kraft in einer nach wie vor ausweglosen Lage gab.
Raynor beschrieb diese Tage so: „Während des Gehens wurde mir klar, dass Zuhause kein Ort, sondern eher ein Geisteszustand ist. Man braucht nicht unbedingt vier Wände, um sich sicher zu fühlen. Zuhause lässt sich auch ganz anders definieren und für mich ist das immer die Familie, egal ob sie 100 Meilen entfernt ist oder mit einem Rucksack auf dem Rücken direkt neben mir läuft.“
Der Weg half ihnen, sich von der Vergangenheit zu befreien und eine neue Identität zu kreieren. Zwei Tage bevor sie das Ziel ihres Pfades erreichten, bot ihnen ein Fremder, der von ihrer Geschichte inspiriert war, an, ein kleines Grundstück mit einem Haus darauf für einen sehr günstigen Preis zu mieten. Ein Studienkredit von Moth erlaubte es den beiden, das Angebot anzunehmen.
Und es kam noch besser. Moth war während der Wanderung stärker und fitter geworden und trotzte somit auch den Widrigkeiten der Gehirnkrankheit. Er spürte genügend Kraft, um nach 1.000 harten und entbehrungsreichen Kilometern ein neues Kapitel in seinem vielleicht nicht mehr allzu langem Leben aufzuschlagen. Gemeinsam mit seiner Frau hatte er nun ein neues Zuhause und die Chance für einen Neuanfang gefunden.
Raynor, deren Kindheitstraum es war, Schriftstellerin zu werden, schrieb für das britische Obdachlosenmagazin „Big Issue“ einen Artikel über ihren ungewöhnlichen Weg. Und für ihren Mann begann sie ein ganzes Buch zu verfassen. „Ein Geschenk an ihn: ein großer fetter Liebesbrief für die Tage, wenn seine Erinnerung möglicherweise zu verblassen beginnen.”
Als ihre Tochter das Buch las, war sie tief berührt und fester Meinung, dass ihre Mutter einen Verleger für die Geschichte finden sollte. Im Jahr 2018 wurde Raynors Manuskript veröffentlicht und sofort in die Shortlist für einen renommierten Buchpreis aufgenommen. Seitdem hat sich „Der Salzpfad“ zu einem internationalen Bestseller entwickelt und weltweit viele Menschen dazu ermuntert, nach schweren Schicksalsschlägen einen Neuanfang zu schaffen.
Ich möchte diese Geschichte mit Ihnen teilen, weil wir uns in unsicheren Zeiten befinden, in denen wir meiner Meinung nach viel Hoffnung brauchen. Noch sind alle negativen Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht zu sehen. Aber die, deren Tage sich möglicherweise noch verdüstern, möchte ich zu einer Übung inspirieren, welche ich selbst gemacht habe, nachdem ich dieses Buch gelesen hatte: All die Dinge aufzuschreiben, für die ich in meinem Leben dankbar bin.
Es ist anfänglich keine einfache Übung, aber es ist eine äußerst augenöffnende und lohnende Übung, die Ihnen Mut und Hoffnung gibt, wenn Sie schätzen, wie viel Sie bereits in Ihrem Leben haben und wie wenig Sie wirklich noch brauchen, um tatsächlich glücklich und zufrieden zu sein.
Nehmen Sie also einfach ein Blatt Papier und listen Sie einmal all die Dinge auf, für die Sie dankbar sind. Schreiben Sie jeden Tag ein paar Dinge dazu und spüren Sie, wie die Dankbarkeit Ihnen hilft, zu lächeln und mit frohem Mut auf die Gegenwart und in die Zukunft zu blicken.
Jörg
Jo says
Hallo, ich finde es sehr schade, dass die meisten Menschen einen ANLASS benötigen um sich darüber klar zu werden was es alles GUTES in ihrem Leben gibt. Aber besser spät als nie.
Ich lese das Buch gerade und bin sehr beeindruckt.
Auch froh, dass ich mein Leben lang ein Bewusstsein für die guten Dinge hatte und habe.
Nichts ist schlimmer, als es nicht zu wissen.
Ich wünsche allen Menschen Erkenntnis