Kann uns dieser bemerkenswerte Denkansatz durch die aktuelle Krise helfen?
Die Briten Joe Simpson und Simon Yates sind 1985 in ihren frühen Zwanzigern und kennen sich nicht besonders gut, als sie sich gemeinsam zu einem hochriskanten Abenteuer auf den Weg machen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Westwand des 6.344 Meter hohen Berges Siula Grande in den peruanischen Anden unbezwungen. Ein Fakt, den die beiden blutjungen Alpinisten zu ändern suchen.
Der Berg soll im alpinen Stil erklommen werden, was nichts anderes heißt, als dass auf dem Weg zum Gipfel keinerlei Vorratsdepots angelegt werden können, dieser also in einem Zug und unter Mitnahme des gesamten Gepäcks erreicht werden muss.
Trotz extremer Kälte, gefährlicher Stürme und äußerst hoher Lawinengefahr erreichen Joe Simpson und Simon Yates am dritten Tag ihr Ziel und beginnen nach kurzer Pause mit dem Abstieg. Doch schon nach 600 Metern beginnt ein Drama, welches beide mit einer unvergleichlichen Extremerfahrung konfrontieren wird. Denn der 25-jährige und damit vier Jahre ältere Joe Simpson stürzt ab und bricht sich ein Bein so kompliziert, dass seine Unterschenkelknochen durch das Kniegelenk bis in den Oberschenkel geschoben werden, dieser sich spaltet und Simpson dadurch viel Blut verliert.
In dieser Höhe, ohne Chance nach Hilfe zu rufen eigentlich ein klares Todesurteil. Und so geht Joe auch sicher davon aus, dass der jüngere Simon Yates ihn zurücklassen muss, um sein eigenes Leben zu retten. Doch der schlägt eine fast aussichtslose Ein-Mann-Rettungsaktion vor, bei der er den verletzten Kletterkumpan ohne Selbstsicherung über die Westflanke des Siula Grande abseilen will.
Simon lässt seinen Partner dabei so schnell wie möglich hinab, weil er weiß, dass sie rasch hinunterkommen müssen, um nicht wegen Unterkühlung zu sterben. Weil aber die Gasvorräte schnell aufgebraucht sind, erleiden sie trotzdem Erfrierungen. Darüber hinaus schlägt Joe immer wieder mit dem gebrochenen Bein auf und erleidet enorme Schmerzen. Schneesturm und Lawinen tun ihr Übriges, um die beiden von einer Lebensgefahr in die nächste taumeln zu lassen.
Das Abseilen geht dennoch einige hundert Meter erstaunlich gut, bis Joe über eine vorher nicht sichtbare Klippe rutscht und auf einmal frei über einer tiefen Gletscherspalte hängt. Simons Körpergewicht und ein anfänglich noch guter Halt verhindern Joes Sturz in die Tiefe. Doch dem fehlt wiederum die Kraft sich mit gefrorenen Fingern hochzuziehen und mit dem Eispickel kann er die Gletscherwand nicht erreichen. So wartet der eine am Seil hängend in Todesangst auf ein Zeichen oder das Hochziehen des anderen, während dieser seinerseits völlig erschöpft auf ein selbstständiges Hochziehen des Kletterfreundes hofft. Beide versuchen sich laut rufend zu verständigen, können einander im nächtlichen Schneesturm allerdings nicht hören.
Simon wartet mehr als eine Stunde, wobei er in seinem „Sitz“ Stück für Stück immer tiefer rutscht. Als seine Kräfte schwinden und er droht selber über die Klippe gezogen zu werden, entschließt er sich eine der schwierigsten Entscheidungen in seinem Leben zu treffen: das Seil mit einem Taschenmesser durchzutrennen.
Joe stürzt ab und fällt viele Meter in eine etwa 10 Meter tiefe Gletscherspalte. Simon geht davon aus, dass Joe diesen Sturz nicht überlebt haben kann. Er kehrt nach Übernachtung in einer kleinen, von ihm hergestellten Schneehöhle, zerschlagen und verzweifelt ins Basislager zurück, wo er am nächsten Tag in einer Abschiedszeremonie Joe’s übriggebliebene Bekleidung verbrennt.
Doch Joe hat in der dramatischen Nacht Glück im Unglück. Sein Sturz wird von Pulverschnee abgefedert. Obwohl bei vollem Bewusstsein tendieren seine Überlebenschancen gegen Null. Wie soll er es schwerverletzt aus einer zehn Meter tiefen Gletscherspalte schaffen?
Kurz bevor er dabei ist aufzugeben, spricht – so beschreibt es Joe Simpson später – eine innere Stimme zu ihm: „Du musst klar denken. Du musst bis zum Schluß klar denken und weiterhin Entscheidungen treffen.“
Während der Aufstieg aus dem Abgrund scheitert, entscheidet der Todgeweihte sich weiter in die Gletscherspalte hinab rutschen zu lassen, findet dort tatsächlich einen Ausgang und kann sich nach mehrstündiger Anstrengung aus der Höhle befreien.
Er ist nun auf dem spaltenreichen Gletscher und beginnt 9 schlimme Kilometer in Richtung Basislager zu kriechen, wobei er versucht, den abwärts führenden Fußspuren von Simon zu folgen, sofern diese nicht zugeschneit sind.
Dehydriert, hungrig und mehrfach einer Ohnmacht nahe, lässt allerdings Joe`s innere Stimme nie nach zu flüstern: „Denke klar und treffe weiterhin Entscheidungen.“
In diesem Sinne beginnt er sich winzige Ziele zu setzen. „Komm schon, da hinten, diesen ein paar Meter entfernten Felsbrocken, den kannst du doch wohl in 20 Minuten erreichen!?“ Und danach den nächsten und den nächsten. Und mit jedem erreichten Ziel wächst in ihm die Zuversicht doch noch nicht sterben zu müssen, obwohl er nicht weiß, ob Simon Yates überhaupt noch im Basislager sein würde.
Nachdem Joe Simpson nach fast drei, unfassbar entbehrungsreichen Tagen, ohne Wasser, ohne Nahrung und bei Verlust von fast einem Drittel seines Körpergewichts das Basislager erreicht, findet er mitten in der Nacht im Zelt Simon Yates, der für den nächsten Morgen seinen Aufbruch geplant hat.
Der erst 21-jährige Yates schafft es den Schwerverletzten mittels eines Maulesels nach Lima zu transportieren, wo er in ein Krankenhaus kommt. In den nächsten zwei Jahren wird Joe Simpson, der sich fast sprichwörtlich an den eigenen Haaren aus der Todes-Gefahr gezogen hat, sechs Operationen über sich ergehen lassen müssen. Und obwohl die Ärzte prophezeien, dass er nie wieder einen schwereren Berganstieg absolvieren kann, tut er es dennoch.
Die Geschichte ist wahr und sowohl in dem Film „Sturz ins Leere“ als auch im Buch „Touching the Void: Return to Siula Grande“ verewigt.
Aber warum erzähle ich die Geschichte hier?
Weil sie aus meiner Sicht ein wenig sinnbildlich für unsere momentane Situation ist. Denn auch für uns ist gerade nichts sicher. Auch wir können auf keine großen Erfahrungswerte bezüglich einer solchen Krise zurückgreifen. Niemand weiß, wann wir unser „Basislager einer neuen Normalität“ erreichen werden. Und trotzdem dürfen wir nicht aufgeben und müssen aus einer schwierigen Situation herausfinden. Und so klang mir in den letzten Wochen immer wieder Joe Simpsons Mantra in den Ohren: „Denke klar und treffe Entscheidungen.“
Wie wäre es also, wenn wir uns durch das unsichere und unbekannt weite Terrain der Corona-Krise robben und uns dabei immer wieder kleine, sichtbare und damit erreichbare Ziele setzen? Überlegt einfach, was realistisch zu schaffen ist. Was kann ich bis morgen früh erreichen? Und was bis übermorgen früh? Und was, wenn diese Etappen absolviert sind, ist bis zum Ende der Woche oder dem Ende des Monats machbar?
Dabei spielt es eben keine Rolle, wie bescheiden die Ziele erscheinen. Hätte es sich Joe Simpson ständig vor Augen geführt, dass er schwer verletzt und halb verdurstet noch neun Kilometer auf dem Rücken rutschend durch eine Eis- und Geröllwüste zum Basislager schaffen muss, hätte er mit Sicherheit aufgegeben und wäre gestorben. So aber stärkte er seine Willenskräfte, indem er sich nicht das Erreichen des Endziels, sondern das Erreichen des nur wenige Meter entfernten nächsten Felsbrockens vornahm.
Also: Denkt klar und trefft Entscheidungen! Das ist das, was Joe Simpson vor 35 Jahren in den peruanischen Anden getan hat. Und sein Fall gilt in der langen Geschichte alpiner Unglücke als eine der unwahrscheinlichsten aller (Selbst)-Rettungsaktionen.
Euer Jörg
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