Benjamin Zander ist Dirigent des Boston Philharmonic Orchestra und Professor am New England Conservatory of Music. Mehr als 25 Jahre lang stand er vor demselben Problem: Er bemerkte, dass die meisten seiner neuen Schüler diese ständig „nagende Stimme in ihren Köpfen“ hörten, und Dinge sagten wie: „Oh Gott, dieser und jener Typ ist wirklich überragend. Ich kann auf keinen Fall jemals so gut sein wie er. Und wenn ich es jetzt schon nicht bin? Was ist, wenn ich auch in der Zukunft dieses Niveau niemals erreichen kann? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles hier überhaupt kann und will!‘ …“
Das Ergebnis? Zander stellte über all die Jahre fest, dass viele seiner Schützlinge es einfach nicht schafften, ihr Top-Potenzial abzurufen. Doch was war der wirkliche Grund dieses Scheiterns? An Willen hatte es in den meisten Fällen nicht gefehlt. Das Problem ergab sich aus einem anderen Grund: Die meisten seiner Schüler waren gefangen in einer von Angst und Furcht bestimmten Lage, in der sie das Gefühl hatten, der Wert dessen, was sie taten, hinge von der Beurteilung ihrer Leistungen ab.
Also setzte sich Benjamin Zander eines Abends mit seiner Frau Rosamund zusammen. Immerhin war sie nicht nur Familientherapeutin, sondern auch erfahrener Coach für Führungskräfte in Politik und Wirtschaft. Vielleicht würde sie eine Idee haben, was man tun könnte, um den Schülern weiterzuhelfen. Die Idee, auf die sie in ihrem Gespräch kamen, war seltsam … faszinierend und revolutionär zugleich: Was wäre, wenn jeder Student gleich zu Beginn des Seminars eine Eins bekommen würde?
Die Bedingung dafür war, dass für die Vergabe der Top-Note jeder Student in den ersten zwei Wochen des Kurses einen, wie Zander es nannte, „Note-1-Brief“ schreiben müsste. Dieser Brief sollte beginne mit: „Sehr geehrter Herr Zander, ich habe meine Eins bekommen, weil …“. Diesem Eingangssatz sollten dann möglichst viele Details darüber folgen, wie sie diese „hervorragende Note“ erreichen konnten – und warum ihnen das „so wichtig“ war.
Beim Schreiben ihrer Briefe, so wollte es der Dirigent, müssten sich die Studenten „in die Zukunft versetzen, dann auf das „Erreichte“ zurückblicken, um über alle Erkenntnisse zu berichten, die sie im Laufe des Jahres gewonnen hatten, sowie über die Meilensteine, die sie passiert hatten.“ Alles musste in der Vergangenheitsform geschrieben werden. Sätze wie „Ich hoffe“, „Ich beabsichtige“ oder „Ich werde“ durften nicht vorkommen.
Zander sagte dabei nicht, was passieren würde, wenn seine Schüler bei dieser Art Test nicht bestehen würden, denn er beabsichtigte etwas vollkommen anderes. Nämlich, dass sich vor allem die lähmenden Selbstzweifel der Schüler auflösen sollten. Sie sollten also in die Lage versetzt werden, negative Denkmuster loszulassen und sich so eher auf das Vorwärtskommen, statt auf Perfektion zu konzentrieren.
Interessant für die Geschichte heute ist natürlich, ob dieses ungewöhnliche Experiment wirklich funktionierte.
Wir kennen nicht alle Details, aber erahnen bereits, dass es vorteilhaft sein muss, sich ohne Angst auf etwas zu fokussieren, was neben Fleiß auch Kreativität und Sensibilität erfordert wie zum Beispiel das Erlernen von Musikinstrumenten, Komponieren oder eben Dirigieren.
Wenn man sich einige der Forschungsergebnisse in diesem Bereich ansieht, wird deutlich, dass Zanders Ansatz zwei wichtige Erfolgsfaktoren nutzt, die immer dann wichtig werden, wenn wir uns aufmachen, bestimmte Ziele zu erreichen:
- Die renommierte und weltweite bekannte Psychologieprofessorin Gail Matthews stellte in einer ihrer Studien fest, dass wir Ziele mit 42 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit erreichen, wenn wir sie vorher aufschreiben und damit für uns sichtbar definieren.
- Zudem verband Zander den in den Briefen gewünschten Text mit dem „WARUM?“ der Schüler und verknüpfte somit deren Aufgaben mit ihren persönlichen Werten und Zielen. Untersuchungen zufolge erleichtert uns genau das, den angepeilten Zielen eine entsprechend hohe Priorität zuzuordnen und damit die notwendigen Opfer für ihr Erreichen zu erbringen.
Weil ich Zanders Konzept interessant fand, habe ich es einmal bei mir selbst angewandt und mir einen Note-1-Brief geschrieben. Ich muss dieses Jahr meine Abschlussarbeit in meinem Studium zum Psychotherapeut schreiben, und dabei wäre eine Note 1 ein großartiges Ziel. Tatsache ist allerdings, dass ich seit einigen Wochen damit kämpfe, ein spezielles Thema für diese Arbeit zu definieren, was mich bereits daran zweifeln lässt, ob ich das jemals schaffen werde.
Den Zander-Brief zu schreiben, war eine richtig gute Erfahrung und brachte mich zu den folgenden drei wichtigen Erkenntnissen:
- Vor mir zu sehen, was am Ende erreicht werden muss, verschaffte mir die notwendige Klarheit für die Struktur und den möglichen Aufbau der Arbeit. Damit hatte sich auch plötzlich ein möglicher Einstieg inklusive potenzieller Themenentwürfe ergeben.
- Zu fühlen, wie es sein muss, die Arbeit erfolgreich abgeschlossen zu haben, hat mir richtig Lust gemacht, mit der Umsetzung besser heute als morgen loszulegen.
- Außerdem wurde mir beim Verfassen meines „Erfolgsbriefes“ klar, dass meine Abschlussarbeit mich meinem Ziel näher bringt, als Coach und Therapeut einen positiven Unterschied im Leben der Menschen zu bewirken. Genau das ist nun der grundlegende Antrieb, der mich bis zur Fertigstellung meiner Abschlussarbeit am Laufen halten wird!
Auch wenn es ein langer und steiniger Weg bis zur Ziellinie wird, ist die Vorstellung, etwas hervorzubringen, auf das ich stolz bin, und das mich als Person, Coach und Therapeut weiterwachsen lässt, inspirierend.
Meine Herausforderung für Euch in diesem Monat ist es deshalb, dass ihr selbst einen Note-1-Brief für ein ganz bestimmtes Projekt schreibt, welches ihr noch in diesem Jahr fertigstellen wollt. Schreibt den Brief so, als hättet Ihr das Ziel bereits erreicht und lasst kein Detail aus, warum Ihr für diese Sache die absolute Bestnote bekommen habt.
Beschreibt in jeder Einzelheit, was ihr getan habt, welche Hürden ihr auf dem Weg überwunden habt und wie euch kein Opfer zu klein war, die Herausforderung am Ende mit Bravour zu meistern. Und was am wichtigsten ist: Wie großartig es sich angefühlt hat, die anvisierte Ziellinie erreicht zu haben.
Fast jeder von uns unterschätzt seine eigene Fähigkeit, etwas zu erschaffen. Fast jeder erlebt aber auch Selbstzweifel. Um diese zu zähmen bzw. das negative Geplauder im Kopf zu beenden und damit die positive Energie freizusetzen, ist es eben hilfreich, sich selbst einen Brief zu schreiben, der davon erzählt, wie man am Ende doch das große Werk vollenden konnte.
Also, wählt einen bestimmten Erfolg aus, den ihr dieses Jahr anstrebt, schreibt den Brief – und lasst die Magie beginnen!
Leave a Reply