Als ich vor acht Jahren meine sieben Sachen für die Bewältigung des Jakobsweges packte, wuchs mein Gewicht, welches ich immerhin für einen Monat lang jeden Tag über eine Distanz zwischen 30 und 40 Kilometer zu tragen gedachte, auf 20 Kilogramm. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine realistische Vorstellung davon, was es bedeuten würde, diese Last 800 lange Kilometer auf meinem Rücken durch den Norden von Spanien zu schleppen. Schon auf meiner ersten Etappe, die mich über die Pyrenäen führte, war ich heilfroh, dass mich ein Freund kurz vor dem Beginn meine Reise darin beraten hatte, das Gewicht auf 10 Kilogramm zu reduzieren – das Allernötigste.
Auf dem oberen Foto ist gut zu sehen, dass sich in meinem Rucksack am Ende genau drei T-Shirts, zwei Hemden, drei Unterhosen, drei Paar Socken, zwei Wanderhosen und eine wetterfeste Jacke befanden. Hinzu kam eine Tube Waschmittel und ein paar wenige persönliche Gegenstände. Das war alles, was ich auf diesen Jakobsweg mitnahm, von dem ich eigentlich gar nichts Konkretes erwartet oder erhofft hatte. Eine der großen Lektionen, die ich am Ende gelernt hatte, war, welche materiellen Dinge wirklich wichtig und für das Überleben notwendig sind. Sie war die Folge der Frage: Was brauche ich wirklich? Die Antwort: nicht sehr viel.
Jetzt, wo wir gezwungenermaßen alle irgendwie eingesperrt und von unserem normalen Leben abgeschnitten sind, kehrte diese Frage mehrmals in mein Bewusstsein zurück. Warum diese Lektion während der Corona-Krise nicht auf das „Leben im Stillstand“ anwenden?
Wir haben ja gerade viel Zeit darüber nachzudenken. Und während wir uns quasi alle auf einem „Jakobsweg“ befinden, lässt sich der Inhalt des Rucksacks eigentlich täglich nachjustieren. Allerdings ist die Auswahl in diesem Falle von vornherein begrenzt, da wir ja viele Dinge, an die wir gewöhnt sind, nun nicht tun oder haben können. Schauen wir uns also an, was wirklich wichtig ist.
Bei der Bestückung meines Krisen-Rucksacks schaue ich mir die vier Säulen meines Lebenskompasses an:
Der Lebenskompass ist ein einfaches Werkzeug, wenn es darum geht, die Prioritäten für das laufende Jahr zu planen und zu verwalten.
- Meine Gesundheit
Die erste und wichtigste Säule ist sicher für alle von uns, gesund und fit zu bleiben. Für mich heißt das im Lockdown, vor allem täglich zu meditieren. Darüber hinaus versuche ich mich gesund zu ernähren, mich gegen meine Schokoladen-Attacken zu verteidigen und mich vom Alkohol fernzuhalten. Außerdem gehe ich so viel laufen und spazieren, wie Boris Johnson & Co. es im Augenblick zulassen. Fußballspielen geht gerade nicht, was ich sehr vermisse, und deshalb hoffe ich, es schon bald wieder in meinen Rucksack der wirklich notwendigen Dinge packen zu können.
- Meine Leute
Dieser Bereich ist der wohl momentan mit Abstand spannendste, weil die Corona-Restriktionen seltsamerweise dazu geführt haben, dass ich mich mit „meinen Leuten“ stärker verbunden fühle als vor der Krise. Und das, obwohl ich wie wohl die meisten von uns viel weniger Gelegenheit habe, diese von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Die einzige Person, mit der ich jetzt buchstäblich rund um die Uhr zusammen bin, ist meine Frau Anne. Einfach ist dieses zusammen „Eingesperrtsein“ nicht. Gleichzeitig habe ich mehr und mehr das Gefühl, dass meine Beziehung zu ihr in den letzten Wochen stärker und tiefer geworden ist. Ich bewundere sie wirklich dafür, dass sie es schafft, mich rund um die Uhr in allen, manchmal auch schwierigen Verfassungen, zu ertragen. Trotzdem kocht sie das wohl beste Essen in der ganzen Stadt. Sie unterstützt mich, obwohl sie mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Danke, Baby!
Außerhalb meines Zuhauses bleibe ich über eine WhatsApp-Gruppe mit meiner Familie in Kontakt und bin wieder näher an alte Freunde herangetreten. So habe ich mit zwei guten alten Kumpanen einen wöchentlichen „Skype-Stammtisch“ eingerichtet, was nichts anderes bedeutet, als dass wir in den vergangenen Wochen wahrscheinlich mehr miteinander geredet haben, als in den Jahren zuvor. Diese Gespräche schätze ich mittlerweile so sehr, dass ich mich jede Woche aufs Neue darauf freue. Darüber hinaus nehme ich wöchentlich an einer Mediationsgruppe teil, die jeden Samstagmorgen, natürlich via Telefon-Konferenz, eine Stunde lang zusammen sitzt, und obwohl ich selbst nicht besonders viel rede, gibt mir diese Gruppe Stärke und ich erfahre jede Menge Unterstützung. Ich bin dankbar für all diese guten Leute da draußen, die mir näher sind als zuvor, und mich, ohne dass sie es wahrscheinlich wissen, in diesen Zeiten sehr ermutigen.
- Meine Arbeit
… ist gerade nicht leicht!
Viele meiner Kunden (und Freunde) haben gewaltige Probleme mit den wirtschaftlichen und persönlichen Auswirkungen der Krise. Es ist schwer, wenn ich sehe, wie schnell und massiv auch etablierte Unternehmen und Karrieren in ihrer Existenz bedroht sind. Es bricht mir das Herz, wenn so viele Leben finanziell auf einmal am Abgrund stehen, ganz zu schweigen von dem, was das in den kommenden Wochen noch für psychische und physische Gesundheitsrisiken nach sich ziehen wird.
Auf der anderen Seite bin ich jetzt als Coach natürlich außergewöhnlich stark gefordert und deshalb dankbar, dass ich meine Zeit sinnvoll nutzen kann, indem ich so vielen Menschen wie möglich helfe und sie unterstütze. Wenn ich ehrlich bin, habe ich in den vergangenen Wochen sogar einige magische Momente erlebt, in denen mich andere Menschen stark damit inspiriert haben, wie sie diesen schwierigen Zeiten mit Bestimmtheit, Optimismus und einem schier unbeugsamen Willen begegnen. Gut gemacht Jungs, lasst es weiter rocken!
- Ich Selbst
Bei all diesen intensiven Bemühungen musste ich allerdings in der vergangenen Woche auch schmerzhaft wahrnehmen, dass mein persönlicher Energie-Tank langsam in die Reserve und dann Richtung Null ging. Ich musste mir eingestehen, dass ich dabei war, mich selbst zu vernachlässigen. Es war an der Zeit, diesem Fakt mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der Umgang mit einer Krise ist schwierig und erfordert ein gutes allgemeines Gleichgewicht. Ich habe mir deshalb selbst versprochen, mir ab jetzt wieder regelmäßigere „Forrest-Gump-Momente“ zu schaffen.
Unter all diesen Gesichtspunkten mache ich nach dem Jakobsweg nun zum zweiten Mal die Erfahrung, zu verstehen, was die wirklich essentiellen Dinge sind, die man in seinen Lebens-Rucksack packen sollte. Allein die stark reduzierten Finanzausgaben während eines Lockdowns haben mir gezeigt, wie wenig schon genug sein kann.
Die größte Einschränkung erleben wir momentan wohl alle im sozialen Bereich. Was uns hilft, die größte Not zu überbrücken, sind digitale Medien. Diesbezüglich habe ich die Magie eines 72-Jährigen Freundes erlebt, der mir über Zoom neue Gitarrenlieder beibringt. Danke Ralf!
Die harten Einschnitte in unser aller Leben haben geholfen, mir darüber klar zu werden, was unbedingt und was nicht in meinen „Krisen-Rucksack“ gehört. Und ich muss gestehen, ich war selbst überrascht, wie wenig das am Ende ist. Mit 20 Kilogramm ist man schon gut dabei – mit zehn Kilogramm noch mehr. Spätestens wenn man am ersten harten Anstieg steht, weiß man es zu schätzen, nur das wirklich Notwendige mit auf die Reise genommen zu haben.
Deshalb frage ich euch zum Abschluss:
- Was braucht ihr wirklich?
- Wie gut unterstützt Euer „Krisen-Rucksack“ das Wesentliche für Gesundheit, Freunde, Familie, Arbeit und wie hilfreich ist er, Euer Selbst zu definieren?
- Was vermisst Ihr im Moment am meisten?
- Und was werdet Ihr auch in Zukunft nicht wieder in den Rucksack packen, wenn sich das Leben wieder normalisiert hat?
Es gibt tatsächlich keinen besseren Zeitpunkt, um diese Fragen zu beantworten, als jetzt.
Bleibt alle gesund und verbunden.
– Euer Jörg
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